»Manchmal korrigiert man sich«
Porträt Die bekennende Marxistin Sahra Wagenknecht denkt nicht mehr an das Wiederaufleben der DDR
REUTLINGEN. In Talkshows und bei ihren viel beachteten Parteitagsauftritten wirkt sie kühl, kompromisslos, kämpferisch. Das gehört zum Markenzeichen und zum Wesen von Sahra Wagenknecht. »Armut und Reichtum heute« so heißt das von Wagenknecht herausgegebene, zeitkritische Buch, das die Europaabgeordnete der Partei »Die Linke« jetzt im Spitalhof vorstellte: Mehr als 200 Interessenten kamen und viele von ihnen mussten sich mit einem Stehplatz begnügen. Im Redaktionsgespräch beim Reutlinger General-Anzeiger zeigte die Links-Hardlinerin aber auch eine erstaunlich gelassene und diskussionsfreudige Seite ihrer Persönlichkeit.
Ernst und streng ist der Ausdruck der attraktiven, wie immer in schwarz gekleideten Frau, ihre Augen blitzen. Sparsam, aber wirkungsvoll setzt Sahra Wagenknecht ihre Hände ein. Die schlanken, langen Finger formen eine Zuspitzung. Und eine Wischbewegung mit der Linken unterstreicht die Aussage, dass die »ganzen Schönwetterreden« über die bessere Konjunktur und die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt »ein einziger Schwindel« sind Szenenapplaus im Spitalhof.
Klar ist aus der Sicht von Sahra Wagenknecht, dass die aktuelle Aufhellung der gesamtwirtschaftlichen Lage in Deutschland an den Beziehern niedriger Einkommen, an Rentnern und Arbeitslosen »total vorbeigeht«. Die Rendite »machen die anderen, und von produktivitätsorientierter Lohnpolitik kann keine Rede sein«, sagt die Rednerin. Sahra Wagenknecht ist ganz in ihrem Element, als sie das »unverschämte und sagenhafte Wachstum« bei Unternehmergewinnen, Dividenden und Managergehältern vorrechnet, die in einem einzigen Jahr um bis zu 20 Prozent gestiegen seien: »Keine Gewerkschaft würde sich trauen, derartige Lohnzuwächse zu fordern«. Vor allem aber geißelt sie die Einführung des Arbeitslosengelds II, »Hartz IV«, sei nicht nur ein »Verarmungsprogramm, sondern auch ein Lohndumpingprogramm«.
»Hartz IV ist ein Verarmungs- und Lohndumpingprogramm«
Spannend wird es, wenn man auf die Zwischentöne hört. Wie lauten die Antworten, wenn es um ökonomische Alternativen geht und deren politische Durchsetzbarkeit? Natürlich wünscht sich Sahra Wagenknecht deutlich höhere Steuersätze für die Reichen. Wichtig ist ihr auch das Verhindern oder Zurücknehmen von Privatisierungen bei Bahn, Telekom oder Post. Sie geißelt die drastische Verringerung der Zahl der Postämter und schimpft über die weiten Wege, die die Postkunden seit der Privatisierung zurücklegen müssen, nur um ein Päckchen zu verschicken. Viele Zuhörer nicken, sie fühlen sich verstanden. Nur: Die Kritik ist nicht neu und schon gar nicht ist dies eine exklusiv linke Kritik. Politische Arbeit in den Parlamenten sei unverzichtbar, sagt Sahra Wagenknecht. Um eine »grundsätzliche Alternative zu dieser kapitalistischen Gesellschaftsordnung « zu erreichen, brauche es aber vor allem »außerparlamentarischen Druck und Widerstand politische Streiks, Demonstrationen, Gegenwehr«. Hier schwingt etwas vom klassisch marxistischen Brachial-Vokabular mit. Und in der Tat ist der Begriff »Klassenkampf« für Sahra Wagenknecht im Prinzip nichts Antiquiertes: »Jeder Tarifkonflikt ist in gewisser Weise ein Klassenkampf«, sagt die 1969 in Jena geborene Frau, die zu ihrem 18. Geburtstag die Gesamtausgabe von Karl Marx und Friedrich Engels geschenkt bekam und fast alle Werke studiert hat.
In der angeregten Diskussion und im Blickkontakt mit GEA-Redakteuren nimmt die 38-jährige bekennende Marxistin auch Argumente anderer politischer Positionen auf, durchaus selbstkritisch. Sie argumentiert auch hier gewohnt präzise und konzentriert, zeigt sich teilweise aber nachsichtig und sogar nachdenklich. »Ein entfesselter Kapitalismus kann nicht die Zukunft der Menschheit sein«, sagt sie. Und nach einer kurzen Denkpause gesteht sie zu, dass auch Ludwig Erhard mit seiner »Sozialen Marktwirtschaft« wohl die richtige Richtungeingeschlagen habe. Als überzeugte »Anti-Kapitalistin«, die immer wieder auf die »unglaubliche Machtfülle« von 500 Weltkonzernen verweist, die die Hälfte des Weltmarkts kontrollierten, meint Sahra Wagenknecht immerhin, dass kleine Unternehmen in privater Führung besser aufgehoben seien. 1994 behauptete Sahra Wagenknecht in einem Interview, die DDR sei »das friedlichere, sozialere, menschlichere
Deutschland gewesen«. Dreizehn Jahre später sieht sie es differenzierter: »Es darf heute nicht mehr darum gehen, das Wiederaufleben der DDR zu fordern. Das will auch keiner.« In sozialer Hinsicht habe der einstige »Arbeiter- und Bauernstaat « jedoch bessere Lösungen geboten, zum Beispiel für Alleinerziehende, so die Frau, die als Kind nur bei ihrer Mutter aufwuchs. Die heute allgegenwärtige Angst um den Job hätte seinerzeit ebenfalls niemand haben müssen.
»Entfesselter Kapitalismus kann nicht die Zukunft der Menschheit sein«
Ihre Augen leuchten, wenn die Sprache auf den 16. Juni 2007 kommt: An diesem Tag trafen sich in Berlin Delegierte der Linkspartei PDS und Vertreter der im Westen in Folge der rot-grünen Agenda 2010 gebildeten WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit). Der Fusionsparteitag zur Gründung der Partei »Die Linke« gilt für viele politische Beobachter als Meilenstein. Seither ist die SED-Nachfolgepartei PDS auch nach Überzeugung von Sahra Wagenknecht keine rein »ostdeutsche Pünktchenpartei« mehr, die im Westen nur ein Schattendasein führte. Den bei der ostdeutschen Parteibasis umstrittenen neuen Co-Parteichef Oskar Lafontaine, der zwischen 1995 und 1999 Vorsitzender der SPD war, empfindet die Parteilinke Wagenknecht in wesentlichen Positionen »sogar als deutlich sozialistischer « als manche ihrer Genossen von der Ex-PDS.
Vor allem in Wahlumfragen ist die Linke in der Tat inzwischen auch in westlichen Bundesländern zu einer festeren Größe geworden, mit Werten von teilweise deutlich über 5 Prozent. »Das ist ein wesentlicher Fortschritt, und es war überfällig«, sagt Wagenknecht. In der zwei Jahre dauernden Annäherungsphase war sie eine der heftigsten Kritikerinnen des Projektes gewesen die WASG sei »keine sozialistische Partei«, bemängelte sie damals. Diese Fundamentalkritik ist vom Tisch. »Manchmal korrigiert man sich auch«, sagt Sahra Wagenknecht mit einem angedeuteten Lächeln, »das war offensichtlich ein Irrtums". (GEA)