Opposition ist Mist
Artikel erschienen in der Wochenzeitung freitag am 17.01.2013
Vor der U-Bahn-Station Berlin Lichtenberg gibt es die Nelke für einen Euro. Ein älterer Herr kauft eine für sich und eine für seinen Enkel im Skianzug. Der schaut erst auf die Nelke, dann hoch zu seinem Opa: "Ist die für Mami?"
"Nein, für Tante Rosa."
An diesem frostigen Sonntagmorgen pilgern wie jedes Jahr Tausende Linke zum Grab der 1919 ermordeten Kommunistenführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, darunter viele Männer mit Pelzmützen, ein paar auf ihre Gehwägen gestützt. Vor dem Friedhof schwankt die Stimmung wie gewohnt zwischen Volksfest und Devotionalienmarkt. Es gibt Erbsensuppe und Rostbratwurst, Stalinbüsten und Marx-T-Shirts, sogar Liebknecht-Bienenhonig verkauft die DKP an ihrem Stand für drei Euro das Viertel Kilo. Rosa Luxemburg hat noch immer Konjunktur, es wird ein guter Tag für die Linke. Verlass ist auch auf das ARD-Kamerateam, das wie jedes Jahr die Spitze der Linkspartei abfilmt, um in den 20-Uhr-Nachrichten den Dreizeiler aus dem Vorjahr wieder auszupacken. Und doch soll für Sahra Wagenknecht, die an der Steinstele einen Kranz ablegt, nun auf einmal alles anders sein.
Für die Partei stehe der nächste Schritt an, hatte Linken-Chef Bernd Riexinger unlängst verkündet: von der Protestpartei zur Veränderungspartei. Die Linke soll regieren - im Westen und im Bund. Und ausgerechnet Sahra Wagenknecht soll dafür sorgen, jetzt da die alten Männer nach und nach in den Hintergrund treten.
Die Vize-Fraktions- und Vize-Parteichefin soll Regierungsgespräche in Niedersachsen verhandeln - für den Fall, dass die SPD die Linke nach den Landtagswahlen am kommenden Sonntag denn fragt. Die jüngsten Umfragen bescheinigen der Partei immerhin sechs Prozent. Nach den Niederlagen im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen brauchen die Genossen dringend eine Trendwende.
An die Wortkombination von "Wagenknecht" und "Regierungsbeteiligung" allerdings muss man sich erst noch gewöhnen. Eigentlich ist die 43-Jährige eine Gegnerin solcher Bündnisse. Die rot-rote Koalition in Berlin etwa hatte sie noch scharf kritisiert, die Linken seien in der Regierung nicht mehr wiederzuerkennen gewesen.
Und vor einem guten halben Jahr hatte sie in der Berliner Stadtmission gewarnt: Die Linke dürfe sich nicht der SPD anbiedern und zur "Light-Version" werden. "Bleiben wir dabei, die Systemfrage zu stellen, bleiben wir authentisch", rief sie damals unter tosendem Applaus.
Das aber war vor dem Parteitag in Göttingen. Vor der Wahl von Katja Kipping und Bernd Riexinger zu den neuen Chefs der Partei. Auch wenn Kipping manchmal fast naiv kindlich wirkt, etwa wenn sie darüber spricht, dass man Stress nicht mit Kräutertee und Yoga bekämpfen kann, ist ihr Machtwillen nicht zu unterschätzen: Ohne großes Aufheben hat sie eine Umarmungsstrategie durchgesetzt. Ihre Partei bietet sich nun offensiv als Regierungspartner an.
Nach einem ersten Vorstoß im Herbst mit abgeschwächten Vorbedingungen legten die Parteichefs am Montag in Hannover nach: Forderungen wie nach einem Mindestlohn, Hartz-IV-Sätzen von 500 Euro, dem Verbot von Waffenexporten und Auslandseinsätzen der Bundeswehr heißen in dem Aktionsprogramm nun nicht mehr Vorbedingungen, sondern "Einstiege in eine solidarische Alternative". Ältere Ideen von SPD und Grünen finden plötzlich Lob. "Viele dieser Forderungen deuten in die Richtung, in die auch Die Linke gehen will, einige sind direkt aus unseren Positionen übernommen", schreiben die beiden. "Wir machen hier ein Angebot für eine handfeste Zusammenarbeit."
Die Hürden sollen so weit abgesenkt werden, dass es der SPD schwer fällt, ihre Ablehnung gegenüber einer Koalition mit der Linkspartei erklären zu können. Die Linke will das schlechte Gewissen von Rot-Grün sein. Und so selbst Wähler gewinnen.
Kipping weiß, dass ihre Partei nur gewählt wird, wenn sie eine Perspektive bietet, die eigenen Forderungen auch umsetzen zu können. 2005 konnte sie auf den Widerstand gegen die Agenda 2010 setzen; 2009 auf die Wut gegen die Rente mit 67 und die Afghanistan-Politik. "Das hat sich heute verschoben", sagt der ebenfalls in Göttingen gewählte Geschäftsführer Matthias Höhn. "Heute haben
wir ein konkretes Angebot.' Im Osten sei die Partei bereits in den vergangenen 20 Jahren dazu gezwungen gewesen. "Das müssen wir auf Bundesebene nun auch tun."
Viele Parteifunktionäre aus dem Westen sahen das bisher nicht so, sie setzten auf Fundamentalopposition. Aber der Aufstand gegen Kippings Kurs bleibt auch deswegen aus, weil ihn sich niemand erlauben kann. "Keine Strömung ist im Parteivorstand mehrheitsfähig", sagt Parteivize Jan van Aken: Weder die Vertreter des "Dritten Weges", zu denen sich der Hamburger selbst zählt, noch Reformer, noch Radikale.
Wartet also Sahra Wagenknecht nur darauf, wie Der Spiegel wissen will, sich im Duell mit Kipping in Position zu bringen, um den soeben beerdigten "Wir-gegen-alle"-Kurs wieder neu zu beleben? Auch, weil der Fraktionschef Gregor Gysi, anders als bisher, an der Lebensgefährtin von Oskar Lafontaine nicht mehr vorbeikommt. Parteifreunde aus dem Vorstand berichten im Gegenteil, dass sich Wagenknecht seit Göttingen ebenfalls geöffnet habe. So wie Oskar Lafontaine übrigens auch.
Am Sonntagnachmittag verkündete er in der Berliner Volksbühne, an die Parteispitze gewandt: "Ich unterstütze das sehr stark: ein Angebot an SPD und Grüne. Wir sind für eine Mehrheit links der Mitte." Gerne würde er mit Rot-Grün im Bund regieren, sagt Lafontaine, allerdings nur, wenn sich letztere an ihr Programm hielten - denn das sei zumindest "zur Hälfte" völlig in Ordnung: Mindestlohn, Vermögenssteuer, Finanztransaktionssteuer, Abschaffung der Praxisgebühr, Mietpreisbegrenzung, Anhebung des Spitzensteuersatzes. "SPD und Grüne darf man nie alleine regieren lassen, es kommt nur Mist dabei heraus", ruft er. Und die Anhänger im überfüllten Saal klatschen, überraschenderweise.
Erst einmal müssen es die Linken aber in die Parlamente schaffen. Dafür soll in Niedersachsen, wie gesagt, Sahra Wagenknecht sorgen. Sie bestreitet viele Termine: Straßenwahlkampf, Interviews, Talkshows, Parteisitzungen. In Salzgitter und Hannover, ob sie wolle oder nicht, sagt ihre Büroleiterin. Die Linke in Niedersachsen braucht sie genauso wie die gesamte Partei: Startet man ohne Rückenwind in die Bundestagswahl, drohen auch die innerparteilichen Spannungen wieder aufzuflammen. Noch schlimmer: Das Experiment der gesamtdeutschen Partei wäre endgültig gescheitert.
Also folgt Sahra Wagenknecht dem Notruf aus Hannover. 220 Plakate hängen im Land, sie verteilt "heiße Suppe gegen soziale Kälte" und tourt durch die Säle. Mit Landespolitik hat sie zwar wenig am Hut, trotzdem ist sie das Zugpferd.
Zu spüren ist das am vergangenen Montag im Kulturzentrum Faust in Hannover. Hier ziehen sich Heizungsrohre an der Decke entlang, und es riecht nach kaltem Rauch. Der Saal ist brechend voll, ganz im Sinne der Musiker-Faustregel: Lieber eine kleine Halle mieten, als vor einer großen leeren stehen. Auf der Bühne verkündet Katja Kipping mit diebischem Lächeln, was sie dem SPD-Spitzenkandidaten Stephan Weil wünsche: Nicht im Kuschelkurs über eine große Koalition zu verhandeln - sondern sich mit einer "profilierten Wirtschafts- und Finanzfachfrau" auseinandersetzen zu müssen. Mit Sahra Wagenknecht. Der arme Mann, mag Kipping sich denken.
Auch die Parteichefin hat in ihrer Rede die SPD angegriffen: "Wer links blinkt und rechts abbiegt, der ist vor allem eines: ein Verkehrsrowdy." Mal nennt Kipping den SPD-Kanzlerkandidaten "Pannen-Peer", dann "Westentaschenmacho". Steinbrück hat ihr dazu allerdings auch reichlich Anlass gegeben.
Bei Wagenknecht klingt das an diesem Abend so: "Es ist dringend an der Zeit, dass die SPD Steinbrück in die Wüste schickt und nicht mehr die Agenda-Clique aufstellt." Oder: "Ich wünsche mir einen Herausforderer für Merkel - stattdessen dieses Trauerspiel: In keiner relevanten politischen Frage unterscheidet sich Steinbrück von der Kanzlerin - nur dass er lieber Sparkassendirektor geworden wäre." Das kommt an. Gab es für Katja Kipping soeben höflichen Applaus, so rastet der Saal bei Wagenknecht fast aus.
Da kann selbst der eingeflogene Griechenrebell und Wahlkampfhelfer Alexis Tsipras noch etwas lernen.
Sahra Wagenknecht hat geschafft, was ihr vor ein paar Jahren kaum einer zugetraut hätte: Von der verfemten "Steinzeit-Kommunistin" hat sie sich zum Liebling der Massen gemausert. Ihre Fachkompetenz in Finanzfragen und ihr rhetorisches Talent bestreiten selbst Konservative nicht mehr. Als sie im vergangenen Sommer ihr Buch Freiheit statt Kapitalismus in der Kulturbrauerei in Berlin vorstellte, outeten sich sowohl FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher als auch CSU-Urgestein Peter Gauweiler als ihre Fans. Ihm sei ja schon etwas mulmig während der Anreise gewesen, sagte Gauweiler damals. "Wie werde ich das meinem alten Vorsitzenden erklären?", habe er sich gefragt, bis ihm ein Sprichwort des ehemaligen KP-Chefs in China, Deng Xiaoping, eingefallen sei: "Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache sie fängt Mäuse."
Nicht nur bei Linken kommt Wagenknechts Kritik an der "Zockerbande", der "Leiharbeit als moderner Sklaverei" und dem "demütigenden Drangsalierungssystem Hartz IV" gut an. Selbst ihre Forderung nach einem Systemwechsel erschreckt schon länger nicht mehr. Nach der Rede in Hannover warten das NDR-Kamerateam und ein paar Fans, die Wagen-
kecht deren Buch zum Signieren reichen. Die stolziert einer baltischen Gräfin gleich hinauf ins Obergeschoss, wo sie Schulterklopfen bekommt und von Kipping, die schon mit einem Becks in der Hand dasteht, erinnert wird, dass das Taxi gleich kommt.
Was aber mag Sahra Wagenknecht vom Strategiewechsel ihrer Partei wirklich halten? Kann eine, die mitunter erbarmungslos auf die SPD eingedroschen hat, jetzt plötzlich Regierungsangebote machen und die Parole von der Veränderungspartei glaubhaft vertreten?
Wagenknecht sieht das natürlich anders. Sie will überhaupt keine große Änderung feststellen. "Eine reine Protestpartei erschöpft sich schnell", sagt sie dennoch. Wenn überhaupt, habe sich die Kommunikation geändert. Regieren wolle sie, ja, aber erstens müsse die SPD im Bund ihre Blockadehaltung überdenken und zweitens am besten den Kandidaten austauschen. Denn mit dem seien die Bedingungen "keine Bundeswehreinsätze", "kein Hartz-IV", "keine Rente mit 67" kaum machbar. Aber die Regierungsverhandlungen in Niedersachsen würde sie sehr gerne unterstützen. Hat sie denn wirklich Lust, ausgerechnet im schönen Hannover Ministerin zu werden? Die Situation sei jetzt die falsche, um darüber zu spekulieren. Antwortet sie und sagt also nichts. Um dann noch hinzuzufügen: Es gäbe einige Ressorts, für die sei sie nicht so geeignet, etwa das Innenressort.
Aber es gibt ja zum Glück auch andere. "Sahra, unser Taxi wartet", ruft Katja Kipping. Die beiden fahren gemeinsam zurück nach Berlin. Für heute war das erst einmal genug Landtagswahlkampf.