Phantomschmerz Wechselkurs
Artikel von Sahra Wagenknecht, erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 16.02.0213
Wer sich von einer Schwächung des Euro eine Stärkung der Exporte erhofft, irrt. Handelsdefizite lassen sich nur durch höhere Löhne ausgleichen.
Der französische Präsident Francois Hollande hat vor dem Europäischen Parlament die Stärke des Euro beklagt. Er forderte von der Europäischen Zentralbank (EZB) eine Politik zur Schwächung des Euro. EZB-Präsident Mario Draghi hingegen wertet die derzeitige Stärke des Euro als Vertrauensbeweis der Finanzmärkte. Beide irren.
Hollande erhofft sich von einer Schwächung des Euro eine Stärkung der französischen Exporte. Doch ob diese Rechnung aufgeht, ist ungewiss: Die Ursachen der Handelsdefizite der südeuropäischen Staaten und der Wettbewerbsnachteile der französischen Industrie liegen nicht in den Vereinigten Staaten oder China. Das zeigt allein schon die Statistik: Etwa 80 Prozent des Handels der EU-Mitgliedstaaten erfolgen nach wie vor über den europäischen Binnenmarkt. Wer also zum Kampf gegen einen starken Euro auffordert, übt sich in Schattenboxen. Eine zentrale Ursache der französischen Probleme ist nicht der Wechselkurs, sondern das Lohndumping in Deutschland via Agenda 2010 und Arbeitsmarktreformen.
Die deutsche Exportindustrie hat sich durch die Senkung der Reallöhne erhebliche Wettbewerbsvorteile verschafft - auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit in Deutschland sowie einer schwachen Binnenwirtschaft. Die anderen EU-Staaten konnten sich wegen der gemeinsamen Währung nicht durch Abwertung wehren. Offenbar sucht Hollande nun einen Ausweg ohne Konflikt mit Berlin.
Eine Abwertung des Euro löst die Probleme jedoch nicht: Profitieren würde überwiegend die deutsche Exportindustrie. Was etwa soll Griechenland exportieren? Das Land hat keine international wettbewerbsfähige chemische Industrie wie Deutschland. Selbst die griechische Agrarwirtschaft ist im letzten Jahrzehnt einen leisen Tod gestorben, der von EU-Subventionen befördert wurde. Auch die französische Automobilindustrie kommt nicht an den Überkapazitäten der Branche vorbei. Zudem würde eine gezielte Abwertung Gegenmaßnahmen der USA, Japans und der Schwellenländer provozieren. Der brasilianische Finanzminister Guido Mantega warnte nicht umsonst mehrfach vor einem Währungskrieg.
Aber auch Draghi irrt: Die Euro-Krise ist nicht überwunden, und die momentane Stärke des Euro ist kein Vertrauensbeweis. Europa driftet in eine tiefe Wirtschaftskrise. Die derzeitige Beruhigung an den Kapitalmärkten und die stabile Währung sind vor allem drei Ursachen geschuldet: Die erste ist direkte Folge der Kürzungspakete, die zum Einbruch der Binnennachfrage führen. Im Ergebnis sinken die Importe, und so entstehen in gewissem Umfang Überschüsse in der Handelsbilanz gegenüber Regionen außerhalb Europas, die eine erhöhte Devisennachfrage nach Euros nach sich ziehen.
Zweitens hat die EZB angekündigt, notfalls in unbegrenztem Umfang Staatsanleihen von Krisenstaaten aufzukaufen, wenn diese sich dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) unterwerfen. Das hat die Kurse von Staatsanleihen der südlichen Euro-Staaten vorübergehend stabilisiert, auch wenn jüngste Kursausschläge anzeigen, wie fragil das Ganze ist.
Drittens wird zielstrebig daran gearbeitet, den ESM zu einem gigantischen Bankenrettungsschirm umzuarbeiten, der europäische Problembanken direkt mit Kapital versorgt und so Aktionäre und Gläubiger vor Verlusten schützt. Dank dieser staatlichen Risikoübernahme können sich auch faktisch insolvente Banken wieder über den Kapitalmarkt refinanzieren.
All das ist Kosmetik für die Bankbilanzen, aber es löst die Probleme nicht. Zumal die Banken die gewonnene Liquidität nicht etwa zur Kreditvergabe an reale Unternehmen nutzen - das Volumen an Investitionskrediten ist europaweit eingebrochen -, sondern für neue Spekulationen im Casino. Auch sind niedrige Zinsen auf Staatsanleihen nur eine geringfügige Erleichterung, wenn gleichzeitig die Wirtschaft schrumpft. Zusätzliche Kürzungspakete bergen nicht nur sozialen Sprengstoff, sondern sie sind auch wirtschaftlicher Selbstmord. Sie bedeuten den direkten Weg in die Überschuldung und Insolvenz des betreffenden Staates.
Für Griechenland wird inzwischen kaum noch bestritten, dass es einen zweiten harten Schuldenschnitt braucht. Dieser Schuldenschnitt wird die europaischen Steuerzahler einen dreistelligen Milliardenbetrag kosten. Und Griechenland ist ein kleines Land. Eine ähnliche Operation für Spanien oder Italien würde die gesamte Euro-Zone geradewegs in den Bankrott führen. Die Sozialisierung der Schulden großer Krisenstaaten und womöglich auch noch ihrer Banken ist ein verrücktes Projekt, das niemals funktionieren kann. Es ist mindestens so verrückt wie die Vorstellung, dass Hypothekenkredite für arme Familien ein nachhaltiges Modell zur Stabilisierung der Baukonjunktur sein können. Obwohl sie darauf beruhen, dass jede Tilgung durch einen noch höheren Kredit finanziert wird. Finanzmärkte glauben gern an verrückte Projekte, solange man damit Geld verdienen kann. Die Ruhe jetzt ist mindestens so trügerisch wie der Boom der Jahre 2005 bis 2007. Irgendwann platzt die Blase.
Brechen die Exporte wegen der Rezession in den Krisenstaaten dauerhaft ein, wird auch Deutschland nicht mehr auf die Füße kommen. Denn dass die Nachfrage aus China, Südostasien und den ebenfalls von einer Dauerkrise geschüttelten USA ausreicht, um die wegbrechende europäische Nachfrage auszugleichen, ist mehr als zweifelhaft. Sinnvoller für Deutschland und Frankreich ist es daher, den Währungskrieg zu beenden und für höhere Löhne zu sorgen. Ein konzertiertes Programm tut Not, um die Binnennachfrage anzukurbeln und das innereuropäische Lohndumping zu beenden. Dies erfordert die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von wenigstens zehn Euro in Deutschland, die Rücknahme der Agenda 2010 sowie Investitionsprogramme. Zur Finanzierung brauchen wir europaweit höhere Unternehmen- und Vermögensteuern. Zusätzlich sollte die EZB im gewissen Umfang direkte Kredite an Euro-Staaten vergeben, um sinnvolle Investitionen statt Spekulation zu finanzieren.
Die Schulden der Staaten müssen zulasten ihrer Gläubiger reduziert, die Verluste der Banken auf Kosten ihrer Aktionäre und Gläubiger abgetragen werden. Bankaktien und Bankschuldverschreibungen werden nahezu ausschließlich von den reichsten fünf Prozent der Haushalte gehalten. Diese reichsten fünf Prozent haben - anders als die Staaten und die restlichen 95 Prozent der Bevölkerung - auch das Vermögen, die Verluste zu übernehmen.