"Glauben Sie im Ernst, der Staat wüsste es besser?"
Streitgespräch zwischen Sahra Wagenknecht und Hans-Werner Sinn, erschienen im Handelsblatt am 15.02.2013
Handelsblatt: Immer mehr Ökonomen berufen sich auf John Maynard Keynes, Immer mehr Politiker preisen seine Konjunkturpakete. Hat der britische Ökonom die richtigen Rezepte für die aktuelle Krise geliefert? Oder sind seine Lehren nicht vielmehr mitverantwortlich für das allgemein verbreitete Wirtschaften auf Pump?
Wagenknecht: In tiefen Krisen sind kreditfinanzierte Konjunkturprogramme ein sinnvolles Gegengewicht - eine Dauerlösung sind sie nicht. Um zusätzliche Nachfrage im Sinne Keynes' zu schaffen, muss man etwas gegen die wachsende Ungleichheit in der Einkommensund Vermögensverteilung tun - und die Steuern da erhöhen, wo sie die Kaufkraft nicht beschädigen. Eine Vermögensteuer für Millionäre dämpft die Nachfrage nicht, eine hohe Erbschaftsteuer auch nicht, so können öffentliche Investitionen finanziert werden.
Sinn: So vertreiben Sie die Reichen und verringern die von ihnen finanzierte Nachfrage nach Investitionsgütern. Das hätte Keynes sicher nicht empfohlen. Die heiße Phase der Krise, in der man keynesianische Rezepturen brauchte, ist im Übrigen vorbei. Es ist an der Zeit zu sparen. Genau das ist ja das Problem von Keynes: Seine Anhänger setzen nur den ersten Teil seiner Ideen um und geben Staatsgeld aus. Den zweiten Teil, das Sparen nach der akuten Krise, ignorieren sie. Das ist auf Dauer fatal.
Frau Wagenknecht, was würde Keynes vom Euro-Krisenmanagement halten?
Wagenknecht: Er wäre entsetzt. Wir haben in Europa keine "besseren Zeiten", sondern eine tiefe Wirtschaftskrise mit Arbeitslosigkeit bis zu 25 Prozent. Keynes wusste, dass sich Volkswirtschaften aus Krisen nicht heraussparen können. Im Süden Europas wird jetzt an allen Ecken und Enden gekürzt, die Schulden steigen aber trotzdem, weil die Kürzungspolitik die Krise verschlimmert.
Sinn: Das Sparen ist unvermeidlich. Die Krisenländer sind zu teuer geworden und haben ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren. Schuld daran ist der billige Kredit, den die Einführung des Euros in diesen Ländern mit sich gebracht hat. Jetzt müssen Löhne und Preise wieder runter. Wirklich sinken können sie nicht, weil sie nach unten starr sind, wie schon Keynes betonte. Aber immerhin kann man die Inflation der Krisenländer drücken, um sie gegenüber einem Deutschland mit relativ höheren Inflationsraten wettbewerbsfähiger zu machen.
Muss Deutschland also die Preise und Löhne erhöhen, um die Wettbewerbsfähigkeit anderer Länder zu steigern?
Sinn: In einer Währungszone ohne Zölle und mit Freihandel gibt es keine Alternative: Deutschland muss teurer werden oder die anderen billiger. Wer den Euro erhalten will, muss die relativen Preise im Süden wieder senken, notfalls durch deutsche Inflation.
Keine schöne Perspektive...
Sinn: Ich sage ja nur, wie sich die Krise theoretisch entschärften ließe. Ich glaube auch nicht, dass das in der Praxis funktionieren würde. Selbst wenn wir die Inflation in den Krisenländern auf null drücken, müsste sie in Deutschland für eine Dekade bei fünf Prozent liegen.
Wagenknecht: Es geht nicht um die Preise, es geht um die Löhne. Wären die deutschen Löhne seit der Jahrtausendwende im Gleichschritt mit der Produktivität gewachsen, müssten sie heute zwölf Prozent höher sein. So hat sich Deutschland Wettbewerbsvorteile erkauft, und gleichzeitig sind die Gewinnmargen gestiegen. Wenn die Beschäftigten die ihnen vorenthaltenen Lohnsteigerungen endlich erhielten, würde der Binnenmarkt gestärkt, genauso die Importnachfrage. Das würde die Ungleichgewichte begrenzen. Dass wir Inflation brauchen, halte ich für abwegig.
Sinn: Wie sich die Preise in Gewinne und Löhne aufspalten, interessiert die ausländischen Käufer nicht. Wenn sich die relativen Preise im Euro-Raum nicht verändern, bleiben die Südländer ewig in ihrer Krise. Dann haben wir entweder eine Transferunion, oder der Euro zerbricht. Und wenn wir in Deutschland höhere Löhne diktieren, kommen wir in eine Stagflation, also einer von der Kostenstatt der Nachfrageseite getriebenen Inflation bei wachsender Arbeitslosigkeit. Die Nachfrage nach den Produkten der Südländerwürde sinken.
Wagenknecht: Wir hätten aber eine höhere Nachfrage. Es ist eine Legende, dass mit den Löhnen allein die Preise steigen.
Sinn: Nein, zunächst einmal hätten wir ein kleineres Angebot und deshalb ein geringeres Volkseinkommen. Es ist noch nicht einmal klar, ob die Lohnsumme dann steigt.
Wagenknecht: Die Frage ist doch: Kann es wirklich die Lösung sein, dass alle Länder in Europa im Wechsel die Löhne senken? Dann kommen wir doch in eine Abwärtsspirale. So eine Wirtschaftsordnung macht die Mehrheit ärmer und zerstört die Mittelschicht.
Sinn: Es ist eben eine Schaukelbewegung. Mal sind die einen zu teuer, mal die anderen. In Deutschland mussten die Arbeitnehmer lange Lohnverzicht üben. Und das hat gewirkt.
Wagenknecht: Ja, auf Kosten der Arbeitnehmer.
Sinn: In Deutschland haben die jetzt wenigstens jobs.
Wagenknecht: Gewachsen sind doch nur Leiharbeit und Minijobs. Zehn Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor. Ihre Lösung ist viel zu mechanisch, Herr Sinn. Es gibt nicht nur Löhne und Preise, dazwischen gibt es Gewinnmargen. In Deutschland wurde und wird wenig investiert, obwohl die Gewinnquoten hoch waren. Schon Keynes wusste: Wenn es keine Absatzerwartungen gibt, fließt das Geld in die Finanzmärkte. Im Rahmen der angeblichen Euro-Rettung landet dort auch das Steuergeld: All die Milliarden haben keine einzige reale Investition begünstigt, sondernwurden genutzt, um die Gläubiger freizukaufen. Statt dieser Sozialisierung der Schulden hat die Linke schon 2010 einen Schuldenschnitt gefordert.
Sinn: Der zweite Teil Ihrer Aussage entspricht in etwa dem, was im Sommer letzten Jahres fast 500 deutsche Volkswirte in getrennten Aufrufen gefordert haben: dass Griechenland einen Schuldenschnitt braucht, und die Gläubiger der Banken und Staaten die Lasten tragen müssen - nicht die Steuerzahler.
Haben die Volkswirte nach zwei Jahren gemerkt, dass die Linke recht hat?
Sinn: Sie meinen, wir hätten von der Linken abgeschrieben? Ich dachte, es war umgekehrt. Es war ein historischer Fehler, Griechenland im Mai 2010 freizukaufen. Damit haben wir nicht den Griechen geholfen, sondern den Finanzmärkten. Das habe ich den Abgeordneten im Mai 2010 geschrieben.
Die EZB hat schon damals vor den Ansteckungseffekten eines Schuldenschnitts auf andere Länder gewarnt.
Sinn: Die EZB hatte vor allem Angst, ihr Vermögen abschreiben zu müssen. Sie hat den Banken Südeuropas gegen mindere Sicherheiten riesige Refinanzierungskredite gegeben, um den wegbrechenden privaten Kapitalmarkt zu ersetzen. Diese Zusatzkredite werden durch die Target-Salden gemessen.
Die inzwischen sinken...
Sinn: Ja, aber es sind immer noch 900 Milliarden Euro - der bei weitem größte Posten bei den Rettungskrediten. Und in Italien steigt dieser Posten weiter. Wagenknecht: Er fällt, weil die Banken sich wieder Geld leihen. Aber nur, weil der Rettungsschirm ESM zum riesigen Bankenrettungsschirm umfunktioniert werden soll. Er garantiert dem Finanzsektor, dass im Falle von Bankenpleiten wieder die Steuerzahler haften und nicht die Gläubiger. Das ist völlig verantwortungslos. Der ESM, das ist unser aller Steuergeld. Die EZB dagegen kann sich ihr Geld immerhin selbst drucken.
Sinn: Ob die EZB die Anleihen kauft oder der ESM, da gibt es nicht den Hauch eines Unterschieds. Wenn die EZB Verluste hat, schüttet sie weniger ans Finanzministerium aus.
Hatte die EZB eine Alternative? Zumindest hat sie die Märkte beruhigt.
Sinn: Auf Kosten der Steuerzahler!
Wagenknecht: Man hat es immer wieder geschafft, die Märkte kurzfristig zu beruhigen. Aber die Krise kam stets zurück und hat längst die Realwirtschaft erfasst.
Keynes hat niedrige Zinsen empfohlen, um die Realwirtschaft zu stützen. Könnte die Zentralbank aus der Krise helfen?
Wagenknecht: Wenn wir Banken hätten, die es als ihre vorrangige Aufgabe ansähen, die Realwirtschaft mit Krediten zu versorgen, würde das wirken. Doch heute begünstigen niedrige Zinsen vor allem die Spekulation. Die Vergabe von Investitionskrediten geht europaweit zurück - und sie bleiben teuer.
Wie kann man das ändern?
Wagenknecht: Es gab sinnvolle Versuche, die Kreditvergabe zu regulieren. Japans Zentralbank etwa hat bis Anfang der 1980er-Jahre die Banken verpflichtet, die Realwirtschaft zu finanzieren.
Sinn: Staatliche Investitionslenkung? Glauben Sie im Ernst, dass der Staat besserweiß, wo investiert werden sollte? Der Kapitalismus ist doch so effizient, weil hinter jedem Kredit der Besitzer des Vermögens steckt. Er hat schlaflose Nächte, weil er um sein Kapital bangt, und genau deshalb lässt er bei der Kapitalanlage höchste Vorsicht walten. Die Anlageentscheidung der Vermögensbesitzer ist die treibende Kraft für Massenwohlstand.
Wagenknecht: Über Kredite entscheiden die Banken. Und die haben keine schlaflosen Nächte, weil sie wissen, dass der Steuerzahler immer einspringt, wenn sie Unfug machen.
Würde Keynes noch leben, was würde er der Politik jetzt empfehlen?
Sinn: Er würde die Verkleinerung der Euro-Zone und eine Abwertung in den ausgetretenen Ländern empfehlen. Denn deren Probleme sind die gleichen wie die, derentwegen er Churchills Beschluss kritisierte, den Goldstandard wieder einzuführen. Er glaubte, dass das eine lange Wirtschaftskrise verursachen würde. Leider behielt er recht.
Wagenknecht: Keynes würde sagen, wir müssten aufhören, an die angebliche Weisheit der Finanzmärkte zu glauben und ihre Kapriolen mit Steuergeld zu alimentieren. Das Kasino muss endlich geschlossen werden.
Frau Wagenknecht, Herr Sinn, wir bedanken uns für das Interview.