Sahra Wagenknecht

"Ach, Herr Lucke!"

Streitgespräch zwischen Sahra Wagenknecht und Bernd Lucke, AfD, erschienen im Spiegel am 08.07.2013

08.07.2013

Der Chef der konservativen AfD Bernd Lucke, 50, und die Linkspartei-Vizin Sahra Wagenknecht, 43, erklären die Euro-Rettung für gescheitert. Wenn es aber um die Lösung der Krise geht, prallen ihre Vorstellungen aufeinander.

SPIEGEL: Frau Wagenknecht, Sie haben vor kurzem gewarnt: "Wer die Gründer der Alternative für Deutschland (AfD) als Populisten abstempelt, macht es sich zu leicht. In vielen Punkten haben sie mit ihrer Kritik an der Euro-Rettung recht." Hat sich Herr Lucke schon für die Wahlkampfhilfe bedankt?

Wagenknecht: Wahlkampfhilfe? Das ist ja wohl ein Scherz. Nein, er hat sich nicht bedankt.

Lucke: Das hole ich gern nach. Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen. Nicht alle haben so fair über uns geredet.

SPIEGEL: Nehmen Sie das Dankeschön an?

Wagenknecht: Herr Lucke weiß, dass wir viele Positionen der AfD für falsch halten. Aber ihre Kritik an der Euro-Politik der Regierung entspricht dem, was die Linke seit Jahren vertritt. Nur weil Herr Lucke aus einer anderen politischen Richtung kommt, stelle ich mich doch nicht hin und sage: "Alles falsch." Im Gegenteil: Es spricht für die Linke, dass unsere Kritik inzwischen von vielen übernommen wird.

Lucke: Sie überschätzen sich. Meine Euro-Kritik stützt sich allein auf ökonomische Erkenntnisse. Was die Linke dazu sagt, habe ich nie verfolgt.

Wagenknecht: Dann sind wir unabhängig voneinander zum gleichen Ergebnis gekommen: Frau Merkels Politik rettet den Euro nicht, sie zerstört ihn.

SPIEGEL: Warum?

Wagenknecht: Wir helfen den Krisenländern doch gar nicht. Milliarden Euro haben wir dafür verschleudert, marode Banken zu sanieren, statt ihre Eigentümer und Gläubiger die Verluste tragen zu lassen. Und gleichzeitig diktieren wir den Staaten brutale Kürzungsprogramme, die sie in eine schwere Wirtschaftskrise stürzen, die zu noch höheren Schulden führt.

Lucke: Richtig. Und jetzt brauchen diese Länder einen Schuldenschnitt. Dann gehen Deutschland Dutzende Milliarden Euro verloren. Aber es gibt auch einen wichtigen Unterschied zwischen den Linken und uns.

SPIEGEL: Und der lautet?

Lucke: Die Linke will den Euro erhalten, obwohl das Lohnsenkungen in Südeuropa um rund 30 Prozent erforderlich macht. Das ist aber politisch überhaupt nicht durchsetzbar. Deshalb wollen wir eigene Währungen für die Krisenstaaten, mit einer Abwertung können sie dann wettbewerbsfähiger werden.

Wagenknecht: Nicht allein die südeuropäischen Staaten sind an den jetzigen Problemen schuld, sondern auch Deutschland. In der Lohnpolitik gibt es die goldene Regel, dass die Gehälter so rasch steigen sollten wie die Produktivität der Arbeitnehmer.

SPIEGEL: Was in Südeuropa nicht der Fall war.

Wagenknecht: Am meisten ist Deutschland von dieser Regel abgewichen. Nach unten. Inflationsbereinigt sind die Löhne bei uns seit dem Jahr 2000 deutlich gesunken. So ist es keine Kunst, Europa mit Exporten zu überschwemmen. Daran wird der Euro früher oder später zerbrechen. Um das zu verhindern, muss das deutsche Lohndumping gestoppt werden.

Lucke: Falsch. In Deutschland entsprechen die Löhne ungefähr der Produktivität der Arbeitnehmer. In Griechenland nicht. Wenn die Linke hier die Gehälter in die Höhe treiben will, verlieren auch wir unsere Wettbewerbsfähigkeit. Das schadet uns, hilft aber nicht den Griechen. Es nützt Briten, Schweizern und Chinesen.

Wagenknecht: Inzwischen kann selbst Frankreich mit den deutschen Dumpinglöhnen nicht mehr konkurrieren. Ich wohne im Saarland und erlebe dort hautnah, wie viele französische Bauern aufgeben, weil es dort einen Mindestlohn von über neun Euro gibt, auf deutschen Feldern aber nur fünf bis sechs Euro gezahlt werden. Jetzt exportieren wir auch noch Erdbeeren und Spargel.

SPIEGEL: Wie wollen Sie gegensteuern?

Wagenknecht: Wir müssen unser Wirtschaftsmodell so umstellen, dass wir nicht mit möglichst geringen Löhnen auftrumpfen, sondern wieder mit überlegener Qualität. Wir haben ja auch schon vor der Agenda 2010 exportiert. Damals waren wir statt mit Billigausfuhren mit Hochtechnologie-Produkten erfolgreich.

Lucke: Wenn ein Land mit überlegener Qualität auftrumpft, dann doch Deutschland. Und dafür werden hier hohe Gehälter gezahlt. Von einem Billiglohnland kann wirklich keine Rede sein. Unsere Löhne zählen zu den höchsten Europas.

Wagenknecht: Das ist doch Quatsch. In der deutschen Industrie wird weniger bezahlt als in der französischen.

Lucke: Das bestreite ich. Aber die Höhe der Löhne ist nicht entscheidend. Wichtig ist, ob sie der Produktivität entsprechen. Da hat Frankreich ein Problem, während unsere Arbeitnehmer gut verdienen, weil sie leistungsfähig sind.

Wagenknecht: Wer in Werkverträge oder Leiharbeit gedrängt wurde, verdient miserabel. Große Exportkonzerne beschäftigen Leute für acht Euro pro Stunde und lassen sich einen Teil der Lohnkosten vom Staat bezahlen. Wegen der schlechten Einkommen konsumieren die Menschen auch weniger. Und darum importieren wir so wenig. Als Ökonom müssten Sie wissen, dass eine Politik der ständigen Exportüberschüsse Wohlstand reduziert.

Lucke: Falsch. Schauen Sie sich den Wohlstand in Deutschland doch an. Es spricht nichts gegen hohe Exporte ...

Wagenknecht: ... wenn man entsprechend viel importiert. Wir Deutschen dagegen setzen das Geld, das wir mit unseren Exportüberschüssen verdienen, in den Sand - indem wir es in US-Hypothekenpapiere oder griechische Staatsanleihen investieren. Das ist doch Irrsinn.

Lucke: Wir exportieren viel, wir importieren viel, und wir legen viel Geld im Ausland an - meistens rentabel. Davon profitieren alle. Unserer Binnenkonjunktur geht es gut.

Wagenknecht: Vielleicht nach dem Ifo-Index, aber nicht nach normalen Daten.

Lucke: Doch, der Konsum ist eine wichtige Stütze der Konjunktur.

Wagenknecht: Die Binnenkonjunktur sorgt für weniger als ein Prozent Wachstum. Das ist ja eine großartige Stütze. Eine solche Situation gab es früher nicht: Die Reallöhne sind massiv gesunken, mehr als jeder fünfte Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnsektor, der Konsum stagniert, es wird kaum investiert.

Lucke: Diese Verelendungstheorie des Proletariats hat noch nie gestimmt. In Wahrheit gibt es keinen Staat, in dem es den Menschen so gutgeht wie in Deutschland.

SPIEGEL: Frau Wagenknecht, wer Ihnen zuhört, kann den Eindruck gewinnen, dass nicht Südeuropa das Problem der Währungsunion ist, sondern die Bundesrepublik. Warum fordern Sie dann nicht offen: "Deutschland raus aus dem Euro"?

Wagenknecht: Weil es so simpel nicht ist und die Probleme nicht löst. Wir sind für den Schlamassel auch nicht allein verantwortlich. Nehmen Sie Griechenland, da gibt es eine korrupte Oberschicht, die in die eigene Tasche gewirtschaftet hat und das noch immer tut. Da liegen die Vermögen, die für die Sanierung des Landes herangezogen werden sollten.

Lucke: Ich bin dafür, dass zunächst die Südeuropäer ausscheiden. Man muss die Euro-Zone geordnet auflösen, sonst verlieren wir hohe Forderungen im Ausland.

SPIEGEL: Das Geld ist doch auch dann weg, wenn die Südeuropäer ausscheiden und ihre neuen Währungen massiv abwerten.

Lucke: Nein, unsere Forderungen lauten dann weiter auf Euro.

Wagenknecht: Aber nur in der Theorie. Die Länder können ihre Schulden doch nicht mehr begleichen.

Lucke: Doch. Wenn die Krisenstaaten nach der Abwertung wachsen, können sie ihre Schulden besser bedienen.

SPIEGEL: Herr Lucke, wenn Ihr Weg überzeugend wäre, müssten die Regierungen der Krisenländer ihn doch längst gehen. Warum folgen sie Ihrem Ratschlag nicht?

Lucke: Noch bleiben sie im Euro, weil man die Hand nicht beißt, die einen füttert. Frau Wagenknecht hat ja recht, dass es eine komische Fütterung ist, weil sie nicht den Menschen hilft, sondern den Banken. Aber wenn die Länder auf sich selbst gestellt wären, weil sie keine Hilfen mehr bekämen, würden sie aussteigen.

Wagenknecht: Viele Menschen in Südeuropa haben natürlich Angst um ihre Ersparnisse. Außerdem kommt der Aufschwung, den Herr Lucke hier prognostiziert, nicht automatisch. Griechenland hat derzeit kaum Produkte, die es exportieren könnte. Dafür würden sich die Importe extrem verteuern, etwa von Nahrungsmitteln. Also gäbe es Inflation. Trotzdem kann man zu dem Schluss kommen, dass ein Austritt besser wäre, als sich auf Dauer der Diktatur der Troika zu unterwerfen.

Lucke: Die Türkei hat doch nicht viel bessere Produkte als Griechenland, boomt dank ihrer eigenen Währung aber.

SPIEGEL: Wir haben eine andere Erklärung, warum die Währungsunion noch hält: Die Lage des Euro ist nicht ganz so dramatisch wie von Ihnen dargestellt. Die Löhne in Südeuropa sinken längst - und die Abwertung zeigt erste Erfolge. In Griechenland boomt der Tourismus, Portugal und Irland exportieren mehr, in Spanien sinkt die Arbeitslosigkeit. Warum sollte der Euro auf diesem Weg nicht doch gerettet werden können?

Lucke: Sie interpretieren die Daten falsch.

SPIEGEL: Oder Sie?

Lucke: Nein. In einer Rezession wird weniger importiert. Natürlich verbessert sich dann die Handelsbilanz. Dadurch ist aber nichts besser geworden. Auch bei der Produktivität ist der Zuwachs vor allem kosmetisch. In einer Wirtschaftskrise werden die unproduktivsten Arbeitnehmer entlassen. Also steigt die durchschnittliche Produktivität der verbleibenden automatisch an. Aber dieser Effekt wird durch Millionen Arbeitslose erkauft.

Wagenknecht: Selbst in Irland, das immer als Musterstaat hingestellt wird, ist nichts auf gutem Wege. Der Staat ist wegen der Bankenrettung bankrott, es wird nicht investiert, der Wohlstand hat sich dramatisch verringert.

SPIEGEL: So düster Sie die Lage auch zeichnen, Ihre Forderungen werden doch derzeit erfüllt: Sie, Frau Wagenknecht, verlangen höhere Löhne in Deutschland, Sie, Herr Lucke, wollen eine interne Abwertung, also sinkende Löhne und Preise in den Krisenländern. Beides passiert.

Lucke: Ich will gerade nicht, dass die Anpassung allein über eine interne Abwertung erfolgt. Das notwendige Ausmaß wäre für die Betroffenen unzumutbar. Deshalb wäre es besser, wenn die Südländer ausscheiden dürften.

SPIEGEL: Und was passiert mit der verbleibenden Euro-Zone?

Lucke: Jeder Staat soll austreten können, dann spricht nichts gegen eine Rest-Wäh-

rungsunion. Es darf aber keine gemeinsame Haftung geben - weder über Rettungsschirme noch Euro-Bonds. Sonst sollten wir lieber alle zu nationalen Währungen zurückkehren.

SPIEGEL: Transferzahlungen und die Übernahme von Schulden drohen doch so oder so. Kaum jemand glaubt, dass Griechen, Portugiesen, im Zweifel selbst die Iren ihre Verpflichtungen langfristig bedienen können.

Lucke: Bestimmte Transfers können wir nicht mehr verhindern, das stimmt. Nach der Bundestagswahl werden die Steuerzahler in Mitteleuropa ein böses Erwachen haben. Aber bislang drohen überschaubare Verluste, weil die Krisenländer alle klein sind. Nur stehen die großen Staaten längst vor der Tür, sei es Italien oder Frankreich. Spanien hat sogar schon angeklopft. Das weist alles in die falsche Richtung.

SPIEGEL: Frau Wagenknecht, als Linke haben Sie doch gegen Transfers von Reich zu Arm bestimmt nichts einzuwenden, oder?

Wagenknecht: Wir haben aber das Gegenteil: Transfers von Arm zu Reich. Das Geld der Steuerzahler fließt zu Banken und Multimillionären. Von den über 200 Milliarden Euro, die Griechenland in den vergangenen drei Jahren an Hilfen bekommen hat, sind weit über hundert Milliarden Euro für Zins- und Tilgungszahlungen an die Gläubiger des Landes geflossen, dazu kommen 50 Milliarden Euro für die Rekapitalisierung der Banken. Damit haben wir die griechische Oligarchie durchgefüttert, während die Bevölkerung verarmt. Das ist alles das Ergebnis der absurden Euro-Politik von Merkel.

Lucke: Und von Gabriel, Trittin und Brüderle.

Wagenknecht: Richtig. Von allen Parteien außer der Linken.

Lucke: Und der AfD.

SPIEGEL: Sie wähnen sich beide auf der richtigen Spur, aus Ihrer Perspektive sind alle anderen Geisterfahrer. Die Zustimmung für Ihre Euro-Politik ist aber gering, Ihre Parteien liegen in den Umfragen zur Bundestagswahl zusammen bei gerade einmal zehn Prozent. Könnte es sein, dass Sie die Geisterfahrer sind?

Lucke: Wir liegen in Umfragen bei drei Prozent, so schlecht ist das nicht. Schließlich kennen uns viele Menschen noch nicht. Das wird sich im Wahlkampf ändern. Aber es gibt auch ein kommunikatives Problem. Die Euro-Krise ist sehr kompliziert. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung folgt trotz großer Verunsicherung noch der Bundesregierung. Dass wir viele Menschen noch nicht mit unseren Argumenten erreichen, heißt nicht, dass sie falsch sind.

SPIEGEL: Sehen Sie das auch so, Frau Wagenknecht?

Wagenknecht: Natürlich wird die Linke bei der Bundestagswahl keine absolute Mehrheit holen. Aber mit uns gibt es wenigstens eine Partei im Bundestag, die dem verrückten Euro-Kurs der Regierung widerspricht und nicht wie Union, SPD, Grüne und FDP einfach alles abnickt.

Lucke: Nur haben Sie keine eindeutige Position. Lafontaine und Sie wollen zu nationalen Währungen zurück, aber der Rest der Linken ist für den Euro. Ihre Partei wird eben nicht primär als eine Anti-Euro-Bewegung wahrgenommen, sondern als SED-Nachfolgerin.

Wagenknecht: Ach, Herr Lucke! Für so plump habe ich Sie nicht gehalten.

Lucke: Der Lackmustest in der Euro-Frage ist die AfD: Je erfolgreicher wir sind, desto schneller steuern die anderen Parteien um.

SPIEGEL: Wenn jemand gegen den Euro ist, könnte er aber auf die Idee kommen, er sei bei der Linken besser aufgehoben. Schließlich hat sie schon 1998 im Bundestag gegen die Euro-Einführung gestimmt.

Lucke: Aber jetzt will die Linke den Euro erhalten. Lesen Sie das Wahlprogramm.

Wagenknecht: Wir sind im Gegensatz zur AfD keine schlichte Anti-Euro-Partei. Wer soziale Gerechtigkeit will, kann nur die Linke wählen.

Lucke: Die Linke versucht lediglich, mit ein bisschen Populismus von der Anti-Euro-Stimmung in der Bevölkerung zu profitieren.

SPIEGEL: Das heißt: Die Linken sind die virtuellen Populisten und Sie die richtigen?

Lucke: Unfug. Das heißt, dass die Linke nur vorgibt, gegen die Euro-Rettung zu sein. Eigentlich will sie die Arbeitsmarktreformen zurücknehmen und die Sozialausgaben steigern. Davon erhofft sie sich, dass beim Euro alles bleiben kann, wie es ist.

Wagenknecht: Dass sich in anderen Bereichen alles ändert, ist doch Voraussetzung dafür, dass der Euro so bleiben kann, wie er ist. Ohne Änderungen etwa auf dem Arbeitsmarkt und in der Lohnpolitik wird die Währungsunion scheitern.

SPIEGEL: Frau Wagenknecht, Herr Lucke, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.