Sahra Wagenknecht

"So wird Europa nicht überleben"

Interview erschienen in den Aachener Nachrichten am 12.05.2015

12.05.2015
Interview: Joachim Zinsen

Frau Wagenknecht, Aachen feiert in den kommenden Tagen den neuen Karlspreisträger Martin Schulz, feiert die Europäische Union, feiert die europäische Einigung. Ist die EU in einem Zustand, der Grund zum Feiern gibt?

Wagenknecht: Schauen Sie sich die Arbeitslosenzahlen in der EU an. Schauen Sie sich die Erfolge von rechten Parteien wie dem Front National in Frankreich an. Das ist doch kein Grund zum Feiern. Stattdessen sollten wir darüber nachdenken, was getan werden muss, damit Europa wieder einiger wird, als es heute ist.

Was stört Sie derzeit an der Politik in Europa?

Wagenknecht: Mich stört vor allem die Arroganz, mit der auch die deutsche Bundesregierung auf einer Krisenpolitik beharrt, die erkennbar nicht funktioniert. Länder, die bereits in großer wirtschaftlicher Not sind, bekommen weitere Ausgabenkürzungen und weiteres Lohndumping diktiert. Die Folge ist: In diesen Ländern wird es noch mehr Niedriglohnjobs geben, noch mehr prekäre Arbeitsverhältnisse, noch mehr Arbeitslosigkeit. Die Ungleichheit wächst. Wenige werden immer reicher, die Mittelschicht schrumpft, die Armut wird größer. Das sind Entwicklungen, die Europa jede Perspektive rauben.

Wie passt das zu Europas Leitbilder: Nämlich Freiheit, Demokratie und Menschenwürde.

Wagenknecht: Diese Ideale der Aufklärung spielen leider eine immer untergeordnetere Rolle. Auch von einer sozial regulierten Marktwirtschaft bewegen wir uns immer weiter weg. Überall werden die Sozialbudgets gekürzt, überall sinken die Renten, überall wird im sozialen Bereich massiv abgebaut. Das verschlechtert die Lebensqualität eines großen Teils der Menschen. Für mich gehört auch die Idee des Sozialstaates, die Idee der Solidarität zu den europäischen Idealen.

Fehlt es in der EU an Solidarität zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten?

Wagenknecht: Natürlich.

Aber die Euro-Staaten haben mit den Milliarden-Rettungspaketen für Krisenländer doch Solidarität bewiesen.

Wagenknecht: Durch die sogenannten Hilfsmaßnahmen und Rettungspakete sind keine Länder gerettet worden, sondern nur Banken und Gläubiger. Griechenland ist das klassische Beispiel. Das Land war schon 2010 überschuldet und zahlungsunfähig. Damals hätte man den Griechen einen Großteil ihrer Schulden erlassen müssen. Das wäre zu Lasten vor allem privater Kreditgeber gegangen. Doch es ist nicht geschehen. Stattdessen sind durch die sogenannten Rettungsmaßnahmen die Schulden den europäischen Steuerzahlern auf die Schultern geladen worden. Mit Solidarität hat das überhaupt nichts zu tun.

Die EU-Kommission sieht die Hilfsmaßnahmen als Erfolg. Sie prognostiziert inzwischen anderen Ländern, die unter dem Rettungsschirm waren – also Spanien, Portugal, Irland oder Zypern - wieder Wirtschaftswachstum.

Wagenknecht: Mit diesen Prognosen wird die Öffentlichkeit nur für dumm verkauft. Wer etwas genauer hinschaut, stellt fest: Vor allem die Bereiche, die für den Ausbruch der Krise in diesen Ländern verantwortlich waren – der Bausektor oder die Finanzbranche – florieren wieder. Aber die Industrieproduktion geht weiter zurück, es wird weiterhin jämmerlich wenig investiert und Fachkräfte, vor allem junge qualifizierte Leute, wandern aus. Das angebliche Licht am Ende des Tunnels ist eine Fata Morgana.

Erleben wir derzeit in Europa eine Krise des Kapitalismus?

Wagenknecht: Es ist jedenfalls die Krise eines Wirtschaftssystems, in dem durch die Deregulierung der Finanz- und der Arbeitsmärkte eine kleine Minderheit immer größeren Profit macht und die, die den ganzen Reichtum erarbeiten, immer weniger vom Kuchen abbekommen. Diese Ungleichheit führt dazu, dass große Teile der Bevölkerung weniger Geld in der Tasche haben, um Produkte zu kaufen. Kapitalismus aber basiert darauf, dass immer mehr verkauft und ein extensives Wachstum erzeugt wird. Auf Dauer passt das alles nicht zusammen.

Was ist ihre Alternative zum Kapitalismus?

Wagenknecht: Zunächst müssen wir uns davon verabschieden, Kapitalismus und Marktwirtschaft gleichzusetzen. Es gibt auch eine nichtkapitalistische Marktwirtschaft. Ich strebe eine Wirtschaftsform an, in der Unternehmen zwar miteinander konkurrieren. Aber diesen Unternehmen sollten nicht mehr Familien oder Fonds gehören, die aus den Betrieben Erträge herausziehen können, ohne in ihnen noch irgendeine produktive Funktion auszuüben. Leute, die Unternehmen oder große Aktienpakete erben und ohne eigene Arbeit immer reicher werden, die sind nicht die Grundlage unseres Wohlstandes.

Sondern?

Wagenknecht: Unseren Wohlstand schaffen Menschen, die arbeiten. Gute Fachkräfte, gute Ingenieure und natürlich auch gute Manager. Die Unternehmen sollten daher ihren Belegschaften gehören. Sie haben die meisten Anreize, sich für ihr Unternehmen auch langfristig einzusetzen. Ihr Modell scheint zumindest in Mittel- und Nordeuropa viele Menschen nicht zu überzeugen. Hier sind linke Parteien durch die Krise weit weniger gestärkt worden, als rechtskonservative und europafeindliche Kräfte.

Woran liegt das?

Wagenknecht: Die Antworten der Rechten sind meist die simpleren und eingängigeren. Einer der wichtigsten Wahlhelfer des französischen Front National ist übrigens die Bundesregierung. Wenn Finanzminister Wolfgang Schäuble öffentlich darüber klagt, dass man Frankreich nicht ähnliche Reformen wie Spanien diktieren könne, dann darf sich niemand wundern, dass in unserem Nachbarland der Unmut wächst und sich die Menschen gedemütigt fühlen. So werden nationalistische und anti-europäische Ressentiments geschürt.

Ihre politischen Gegner werfen Ihnen vor, gerade Sie würden mit Ihrer Kritik an der EU diese anti-europäischen Ressentiments bedienen.

Wagenknecht: Nein, die Ressentiments werden von jenen Kräften geschürt, die das heutige Europa gestalten, die die Lebensqualität der gesellschaftlichen Mitte zerstören, die den Leuten das berechtigte Gefühl vermitteln, dass alles, was aus Brüssel kommt, ein Angriff auf ihre Löhne und ihren Wohlstand ist. Erst wenn Brüssel nicht mehr Motor des neoliberalen Umbaus unserer Gesellschaft ist, werden sich die Menschen wieder mit Europa identifizieren.

Sie sind also keine Europa-Skeptikerin?

Wagenknecht: Überhaupt nicht. Nationale Borniertheit finde ich grauenvoll. Dass uns in Europa keine Schlagbäume mehr trennen, ist ein Glück. Aber nochmals: Wer das erhalten will, muss Europa als soziales Projekt begreifen. Europa muss mehr sein als ein weitestmöglich liberalisierter einheitlicher Binnenmarkt. Sonst wird es nicht überleben.

Den Wahlsieg von Syriza in Griechenland Anfang des Jahres haben Sie als Chance für Europa gefeiert. Sehen Sie das vier Monate später immer noch so?

Wagenknecht: Brüssel und Berlin tun zwar alles, um Athen jeden Verhandlungsspielraum zu nehmen. Trotzdem sehe ich die Regierung von Alexis Tsipras auf dem richtigen Weg ist. Sie hat jetzt nochmals deutlich gemacht, dass sie vor allem die 500 reichsten Familien Griechenlands zur Kasse bitten will. Das ist in meinen Augen auch ihre einzige Chance. Sie braucht Geld, um die Wirtschaft durch Investitionen wieder auf die Beine zu bringen. Sie braucht Geld, um die Sozialsysteme wieder aufzubauen. Das Geld wird die Regierung nicht von anderen Ländern bekommen. Das muss sie sich von der eigenen Oberschicht holen. Bleibt das Problem der griechischen Altschulden, die heute großteils vom europäischen Steuerzahler getragen werden.

Wie ist damit umzugehen?

Wagenknecht: Griechenland wird sie nicht zurückzahlen können. Irgendwann wird an einem Schuldenschnitt kein Weg mehr vorbei führen. Eigentlich weiß das jeder.

Aber kaum jemand in Brüssel und Berlin sagt es öffentlich.

Wagenknecht: Vom IWF war es jetzt durchaus zu hören. Die Bundesregierung sagt es aus einem einzigen Grund nicht. Angela Merkel müsste dann zugeben, dass sie deutsches Steuergeld in Milliardenhöhe veruntreut hat.

Wenn nun die Regierung Merkel aber an ihrem bisherigen Kurs festhält?

Wagenknecht: Das sogenannte Rettungsprogramm hat in Griechenland die Wirtschaft endgültig zum Absturz gebracht, die Schulden weiter nach oben getrieben, die Reichen noch reicher gemacht. Wenn Brüssel und Berlin die neue griechische Regierung dazu zwingen, diesen absurden Kurs fortzusetzen, wenn sie weiterhin nicht mit der Absicht verhandeln, Griechenland zu helfen, sondern die Regierung Tsipras zum Scheitern zu bringen, dann wird Athen nicht umhin kommen, die Zahlungsunfähigkeit zu erklären.

Und aus dem Euro ausscheiden?

Wagenknecht: Warum? Es gibt keine Klausel, die einen Rauswurf Griechenlands aus dem Euro wegen erklärter Zahlungsunfähigkeit rechtfertig.

Wie es mit Griechenland in Europa weitergeht, wird entscheidend von der deutschen Haltung abhängigen. Wie sollte sich Deutschland als wirtschaftlich und politisch stärkstes Land generell gegenüber kleineren EU-Staaten verhalten?

Wagenknecht: Wir hatten lange Zeit in der deutschen Politik ein Verständnis dafür, dass sich Deutschland angesichts seiner Geschichte nicht als Hegemon aufführen darf, sondern anderen Ländern und gerade auch Frankreich mit großem Respekt begegnen muss. Das galt zum Beispiel auch für die Regierung von Helmut Kohl. Dieses Verständnis ist verloren gegangen.

Sie loben einen Bundeskanzler der CDU?

Wagenknecht: Bei all meiner Kritik an Kohl: In dieser Frage hat er deutlich mehr Fingerspitzengefühl gezeigt als die Merkel-Regierung.