Für höhere Renten - oder lieber für Gendersternchen?
Sahra Wagenknecht zur Frage, wer eigentlich noch die kleinen Leute vertritt
Auszug des Interviews von Boris Herrmann vom 24.10.2020, erschienen in der Süddeutschen Zeitung
(...) Boris Herrmann: Frau Wagenknecht, was fällt Ihnen ein, wenn Sie über den Zustand der Linken nachdenken?
Sahra Wagenknecht: Man muss erst einmal fragen: Was ist links? Was heute als links gilt, hat mit den traditionellen Anliegen linker Politik oft nicht mehr viel zu tun. Statt um soziale Ungleichheit, Armutslöhne und niedrige Renten drehen sich linke Debatten heute oft um Sprachsensibilitäten, Gendersternchen und Lifestylefragen. Diejenigen, für die linke Parteien eigentlich da sein sollten, also die Beschäftigten, die untere Mittelschicht, die Ärmeren, wenden sich deshalb ab. Von Arbeitern und Arbeitslosen werden linke Parteien kaum noch gewählt. Wir sollten beunruhigt sein angesichts der Serie von Wahlniederlagen, die wir - mit Ausnahme von Thüringen - in den letzten zwei Jahren eingefahren haben. Zumal dieser Niedergang parallel zum Absturz der SPD verläuft.
Boris Herrmann: Ist das ein rein deutsches Phänomen?
Sahra Wagenknecht: Nein. Die linken Parteien sind Akademikerparteien geworden. Thomas Piketty weist das ja in seinem neuesten Buch sehr anschaulich nach: Ob USA, Osteuropa oder Westeuropa, es ist überall der gleiche Trend: Anders als noch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, sind es nicht mehr die Benachteiligten, sondern die Bessergebildeten und tendenziell auch die Besserverdienenden, die links wählen. Das ist schon ein Armutszeugnis für die Linke, wenn sie die Armen nicht mehr erreicht.
Boris Herrmann: Wieso hat die deutsche Linke den Zugang zu ihrem Kernklientel verloren?
Sahra Wagenknecht: Linke Parteien sind heute vor allem in der urbanen akademischen Mittelschicht verankert, da kommen viele ihrer Mitglieder und Funktionsträger her. Vor allem letztere sind oft unter privilegierten Bedingungen aufgewachsen und haben kaum einen Zugang zum Leben normaler Menschen. Deshalb werden Debatten geführt, die an den Problemen vorbeigehen, die etwa eine Rentnerin hat, die von 900 Euro im Monat leben muss. Oder jemand, der jeden Tag Postpakete Treppen hochschleppt. Oder als Schichtarbeiter in einem Industriebetrieb arbeitet. Diese Menschen können nichts anfangen mit der Debatte über Sabbaticals oder die Abschaffung des Autos. Sie reagieren allergisch, wenn der Klimawandel wieder nur das Alibi dafür ist, dass ihr Heizöl, ihr Strom und ihr Sprit noch teurer werden. Und sie wollen auch nicht dafür angemacht werden, dass sie ihr Schnitzel beim Discounter kaufen. Auch wenn man sieht, was in linken Kreisen heute als rassistisch gilt: Das hat mit dem originären Inhalt dieses Begriffs nichts mehr zu tun. (...)