Sahra Wagenknecht

„Die linken Parteien machen etwas falsch“

Sahra Wagenknecht im Interview mit dem Weser Kurier, erschienen am 25.04.2021

25.04.2021

Im Interview mit dem WESER-KURIER kritisiert Sahra Wagenknecht die Identitätspolitik von Bewegungen wie „Black Lives Matter“. Sie sagt: „Es werden Unterschiede zu fundamentalen Trennlinien aufgeblasen.“

Im vergangenen Sommer sind Tausende junger Menschen nicht nur in Bremen auf die Straße gegangen, um unter dem Slogan „Black Lives Matter“ gegen Rassismus zu demonstrieren. In Ihrem Buch kommt die Bewegung nicht gut weg. Was haben Sie gegen die Aktivisten?

Gar nichts. Im Gegenteil, ich freue mich, wenn sich junge Menschen gegen Rassismus engagieren. Das Problem ist, dass „Black Lives Matter“ seinem Anliegen mit der Fokussierung auf Symbolpolitik keinen Gefallen tut. Der Mord an dem Schwarzen George Floyd durch einen rassistischen Cop ist etwas fundamental Anderes als wenn jemand sein Restaurant „Zum Mohrenkopf“ nennt. Und das Umstürzen von Denkmälern ändert an heutigen Unterdrückungsverhältnissen, an niedrigen Löhnen und mangelnden Aufstiegschancen nichts. Wer daran etwas ändern will, sollte das Gemeinsame in den Mittelpunkt rücken und nicht das Trennende. In den USA zum Beispiel betreffen Armut und soziale Probleme zwar in besonderem Maße Schwarze. Aber sie betreffen längst auch Millionen Menschen mit weißer Hautfarbe. Auch im deutschen Niedriglohnsektor arbeiten keineswegs nur Menschen aus Einwandererfamilien. Die sogenannte Identitätspolitik stellt in den Mittelpunkt, welche Hautfarbe, welche Abstammung oder welche sexuelle Orientierung jemand hat. Und diese Unterschiede werden zu fundamentalen Trennlinien aufgeblasen, die dann darüber entscheiden, wer über was reden darf. Dadurch werden Zusammenhalt und Solidarität zerstört.

Sie haben mit Ihrem Buch eine Debatte über Sinn oder Unsinn der Identitätspolitik entfacht. Was wollen Sie mit der Debatte erreichen?

Ich möchte, dass die linken Parteien wieder mehr Menschen erreichen. Es ist doch erschreckend: Die Union ist in einer erkennbar desolaten Verfassung. Sie hat sich über Wochen einen offenen Machtkampf geliefert, und sie hat vor allem mit ihren Ministern Jens Spahn und Peter Altmaier ein katastrophales Krisenmanagement zu verantworten. Doch obwohl die Union dadurch im öffentlichen Ansehen völlig lädiert dasteht, kommen SPD und Linke zusammen in Umfragen auf kaum noch 25 Prozent der Wählerstimmen. Da muss man sich doch fragen: Was machen wir falsch? Und ich finde, die linken Parteien machen etwas falsch. Sie orientieren sich in ihrer Ausrichtung und ihren Forderungen mehr und mehr an der Lebenswelt eines großstädtischen, relativ gutsituierten akademischen Milieus. Dadurch verlieren sie teilweise den Bezug zu denen, deren Interessenvertreter sie eigentlich sein sollten: Menschen, die um ihr bisschen Wohlstand immer mehr kämpfen müssen, Geringverdiener, Rentner mit demütigend niedrigen Renten, viele kleine Selbständige, die die Regierung in der Corona-Zeit völlig im Stich gelassen hat.

Die Kassiererin im Supermarkt erreichen die linken Parteien nicht mehr?

Zumindest erreichen wir sie immer weniger, weil Debatten über Sprachreglementierungen und Lebensstilfragen an den Problemen der Kassiererin vorbeigehen. Ihr wichtigstes Problem ist, dass sie häufig schlechte Arbeitsverträge diktiert bekommt, dass eine Tarifbindung im Einzelhandel fast gar nicht mehr existiert, dass es unendlich viele Teilzeitverträge gibt und dass am Ende des Monats ihr Einkommen einfach nicht reicht. Das sind die Kernprobleme, um die sich linke Politik kümmern muss. Und leider stellen viele Linken - und das betrifft nicht nur meine Partei - immer öfter Dinge in den Fokus, die an diesen Kernproblemen vorbeigehen.

Sie stellen in Ihrem Buch einige steile Thesen auf und neigen streckenweise auch zu einem polemischen Stil, wenn sie sich etwa über „Moralisten ohne Mitgefühl“ Gedanken machen. Leisten Sie damit nicht einen gewissen Vorschub, dass ihre eigentlichen Botschaften missverstanden werden, weil die Leute sich angegriffen fühlen?

Naja, diejenigen, die ich angreife, dürfen sich auch gerne angegriffen fühlen. Und im Gegensatz zur emotional aufgeheizten, moralisierenden Diskussionskultur finde ich mein Buch recht sachlich. Ich bekomme übrigens auch viele positive Rückmeldungen. Viele, auch viele Linke, schreiben mir, dass ihnen das Buch aus dem Herzen spricht. Den von links als „progressiv“ verklärten Lebensstil muss man sich eben leisten können. Man muss die Mieten in der Innenstadt bezahlen können, um dann mit dem Fahrrad zum Job zu fahren. Höhere Sprit- und Heizölpreise sind für einen stolzen Tesla-Fahrer, der in einer topsanierten Altbauwohnung lebt, etwas anderes als für einen Handwerker in einer Kleinstadt, der täglich seinen Diesel-Mittelklassewagen braucht. Linke dürfen diese Nöte und sozialen Probleme nie aus dem Auge verlieren.

Zum vollständigen Interview beim Weser Kurier