Sahra Wagenknecht

Die große Leerstelle in unserem politischen System

Ein Gastbeitrag von Sahra Wagenknecht, erschienen in der Welt am 30.05.2022

30.05.2022
Sahra Wagenknecht

Die Preise steigen und steigen. Selbst Mittelschichtfamilien können ihren bisherigen Lebensstandard nicht mehr ohne weiteres halten. Wer schon vorher mit seinem knappen Gehalt oder seiner kleinen Rente kaum über den Monat kam, ist am Verzweifeln. Trotzdem heißen die Gewinner der jüngsten Landtagswahlen CDU und Grüne, zwei Parteien, bei denen das Bemühen um sozialen Ausgleich eher nicht zum Markenkern gehört. Die SPD hingegen hat ihren langjährigen, durch die Bundestagswahl kurz unterbrochenen Niedergang mit neuen Negativrekorden fortgesetzt. Die Linke ist zur Splitterpartei geworden.

Bedeutet das, dass die soziale Frage den deutschen Wähler eher nachrangig interessiert? Dagegen spricht, dass der Wunsch nach mehr sozialer Sicherheit, nach soliden Arbeitsplätzen, ordentlichen Löhnen und einer besseren Alterssicherung laut Umfragen in den Ranglisten der wichtigsten Themen in Deutschland seit langem ganz oben steht. Es ist wenig plausibel, dass dieser Wunsch ausgerechnet in einer Zeit besonders großer Unsicherheit und extremer Zukunftssorgen an Bedeutung verlieren sollte.

Profilbildend für Union und Grüne war in den letzten Wochen vor allem ihr vehementes Eintreten für die Belieferung der Ukraine mit schweren Waffen und ihr Setzen auf einen militärischen Sieg des Landes, der freilich auf absehbare Zeit kaum erreichbar ist. Union und Grüne stellen sich damit gegen die Forderung des früheren US-Außenministers Henry Kissinger, des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und neuerdings auch der New York Times an die Präsidenten Biden und Selenskyj, durch Kompromissbereitschaft die Tür für Verhandlungen und damit für ein schnelleres Kriegsende zu öffnen.

Vor allem die Grünen, aber auch prominente Politiker der Union fordern außerdem lautstark eine Verschärfung der Energiesanktionen gegen Russland, insbesondere ein Ölembargo, das die Inflation in Deutschland absehbar weiter erhöhen würde, während es Putin kaum schadet. Immerhin kaufen andere Länder gern das Öl, das wir nicht mehr haben wollen.

Ein schlichter Geist könnte die Wahlergebnisse so deuten, dass die große Mehrheit der Deutschen die Heldensaga vom tapferen Kampf der Ukrainer bis zum endgültigen militärischen Sieg über Russland teilt und für dieses Ziel bereitwillig hohe Kosten, weiter steigende Preise und die mit der Fortdauer des Krieges verbundenen militärischen Eskalationsgefahren in Kauf nimmt. Ich halte diese Interpretation für wenig überzeugend. Sehr viel wahrscheinlicher scheint mir, dass viele Menschen in Deutschland zwar den verbrecherischen Krieg verurteilen, sich aber vor allem dessen schnelles Ende, eine Dämpfung der Inflation und eine Erleichterung ihrer zunehmend schwierigen Lebensumstände wünschen, doch zu ihrem Bedauern keine Partei finden, mit deren Wahl sie diese Meinung zum Ausdruck bringen können. Dafür spricht auch die äußerst niedrige Wahlbeteiligung bei den jüngsten Wahlen.

Laut Umfragen lehnt knapp die Hälfte der Deutschen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ab. Man kann davon ausgehen, dass die meisten von ihnen einen schnellen Waffenstillstand um den Preis von Kompromissen einem langen Krieg mit ungewissem Ausgang vorziehen würden. Regierungspolitiker, die einen solchen Weg fordern, gibt es allerdings auch in SPD und FDP nicht. Scholz hat lange laviert, aber der Lieferung schwerer Waffen letztlich zugestimmt. Auch das Ölembargo gegen Russland wird von der gesamten Ampel mitgetragen. Die AfD ist in der Frage der Waffenlieferungen gespalten und wird von vielen ohnehin aus prinzipiellen Gründen nicht gewählt. Und die Linke? Vertritt seit einiger Zeit zu jeder Position auch das genaue Gegenteil. Also man ist gegen die Lieferung schwerer Waffen, aber einige sind auch dafür. Ein Teil ist gegen ein Ölembargo, der andere will auch die Gasimporte aus Russland stoppen. Einige wollen niedrigere Spritpreise, andere lieber Verbrennerautos verbieten...

Wen also soll ein Bürger wählen, der sich anstelle militärischer Eskalation in der Ukraine Verhandlungen und einen Kompromissfrieden wünscht und das Energie-Embargo gegen Russland als Schuss ins eigene Knie ablehnt? Wenn knapp die Hälfte der Bevölkerung letztlich keine Partei mehr findet, die ihre Sichtweise auch nur annähernd vertritt, ist das nicht nur eine große Repräsentationslücke im politischen System, sondern ein ernstes Problem für die Demokratie. Denn es führt zur Ausgrenzung von Positionen relevanter Teile der Bevölkerung aus der politischen Debatte und dadurch irgendwann auch aus dem als zulässig betrachteten Meinungskorridor. Das ist gefährlich.

Zumal die Repräsentationslücke nicht nur das Feld der Ukraine-Politik betrifft, sondern auch viele andere Themen. Das Meinungsspektrum in Deutschland ist durch Umfragen relativ gut erforscht. Die Mehrheit steht wirtschafts- und sozialpolitisch tendenziell eher links in einem klassischen Verständnis, befürwortet also weniger soziale Ungleichheit und mehr Sicherheit. Und sie ist kulturell eher wertkonservativ, schätzt also Traditionen und gemeinsame Werte als unerlässlichen Kitt gesellschaftlichen Zusammenhalts. Beides wiederum steht in Verbindung, denn ohne Zusammengehörigkeitsgefühl kann es auch keinen Sozialstaat geben.

Das Kontrastprogramm zu dieser linkskonservativen Position vertreten die Grünen, die damit in ihrem Milieu gutsituierter Großstadtakademiker erfolgreich sind. Das Problem ist eine seit Jahren fortschreitende Homogenisierung der politischen Parteien in Richtung dieses grünliberalen Programms, das kalte Marktgläubigkeit mit Mittelstands- und Industriefeindlichkeit, scheinheiliger Hypermoral und neuerdings auch mit einem ungehemmten Bellizismus vereint. Je mehr insbesondere SPD und Linke die Grünen als politische und kulturelle Avantgarde akzeptieren, desto stärker entfremden sie sich von ihren einstigen Wählern.

Es ist kein Zufall, dass die Wahlbeteiligung seit langem ein zuverlässiger Indikator für das Durchschnittseinkommen im jeweiligen Wahlbezirk ist. Die Einwohner der hochpreisigen hippen Innenstadtquartiere gehen natürlich auch deshalb häufiger zur Wahl, weil sie das berechtigte Gefühl haben, dass ihre Interessen politische Berücksichtigung finden. Auch in wohlhabenden Villenvierteln ist der Wähleranteil überdurchschnittlich. In kleinstädtischen und ländlichen Gegenden wird er schon kleiner. Nahezu eine Rarität sind Wähler dort, wo vor allem Ärmere leben, also in der Tristesse von Köln-Chorweiler oder Marzahn-Hellersdorf. Da fühlen sich die Menschen nicht nur von allen Parteien vergessen, sie sind es.

Aber nicht nur die Nichtwähler (ver)zweifeln am politischen Angebot. Laut einer kurz vor der Bundestagswahl 2021 durchgeführten Allensbach-Umfrage waren sogar 53 Prozent der Wähler, die zur Wahlteilnahme entschieden waren, von keiner Partei überzeugt, sondern gaben an, das kleinere Übel zu wählen oder mit ihrer Wahl ein größeres Übel verhindern zu wollen. Mit gelebter Demokratie hat das wenig zu tun. Die große Leerstelle im politischen System muss daher dringend geschlossen werden.

Link zum Artikel: Sarah Wagenknecht: Das Verzweifeln der Wähler am politischen Angebot - WELT