„Scholz muss mit Putin über Gas verhandeln“
Sahra Wagenknecht im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung, erschienen am 1. Oktober 2022
In der Krise sollte Bundeskanzler Scholz direkt mit Russland über die Wiederaufnahme der Gaslieferungen verhandeln. Das fordert die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht im Interview. Auch sonst hat die Ikone der Linken einige Forderungen, die bei ihrer Partei auf Widerstand stoßen. Ist die Linke noch ihre politische Heimat?
Wagenknecht hält etwa an ihrer umstrittenen Forderung fest, Sanktionen gegen Russland zu beenden. Strafmaßnahmen hätten katastrophale Folgen für die deutsche Wirtschaft und verfehlten ihr Ziel, Kremlchef Wladimir Putin zu einem schnellen Ende des Krieges zu bewegen, sagte die Politikerin. Damit bleibt sie bei ihrer Position, die innerhalb der Linke zu einem Richtungsstreit bis zu einer drohenden Spaltung geführt hatte, manche forderten ihren Ausschluss aus der Partei. Doch Wagenknecht, die bis 2019 Fraktionsvorsitzende war, sieht in der Linken immer noch ihre politische Heimat - und hat einen Wunsch an ihre Parteikollegen.
Frau Wagenknecht, die explodierenden Energiepreise bringen viele Bürger in finanzielle Nöte. Sie haben jüngst die Bundesregierung als „dümmste Regierung Europas“ betitelt, weil sie mit den Sanktionen einen Wirtschaftskrieg gegen Russland führe, der uns mehr als Russland schade. Glauben Sie das wirklich?
Die Sanktionspolitik und die durch sie ausgelöste Energiepreisexplosion haben bei uns katastrophale Folgen. Der Schaden für Russland ist gering, der Gaskonzern Gazprom macht Rekordgewinne. Auf den Krieg haben die Sanktionen keine Auswirkung, sie verfehlen ihr Ziel, Druck in Richtung eines schnellen Kriegsendes auszuüben. Deshalb sollten wir diese Politik nicht fortsetzen.
Das ist eine ziemlich russlandfreundliche Haltung …
Das stimmt doch nicht. Wenn ich sage, wir müssen den Wirtschaftskrieg mit Russland beenden, relativiere ich damit nicht die Kriegsverbrechen des Aggressors Russland. Aber wir helfen der Ukraine nicht, indem wir unseren industriellen Mittelstand und den Wohlstand der Menschen in unserem Land zerstören.
Dann schlagen Sie doch mal Alternativen zu Sanktionen vor…?
Ich glaube, es braucht diplomatische Initiativen - und Druck auf Russland und die Ukraine. Keine Seite kann den Krieg militärisch gewinnen - in dieser Situation muss man verhandeln und kompromissbereit sein. Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung und andere europäische Regierungen einen Friedensplan vorlegen, ein Ausstiegsszenario, statt endlos Waffen zu liefern. Europa muss hier endlich eigenständig handeln, denn Washington hat wenig Interesse an einem schnellen Kriegsende. Immerhin profitieren die USA wirtschaftlich und politisch von der aktuellen Situation.
Was erwarten Sie von Kanzler Scholz?
Die Bundesregierung sollte aus den meisten Wirtschaftssanktionen aussteigen und mit Russland über eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen verhandeln. Dafür müssen die beschädigten Pipelines schnell repariert werden. Die deutsche Industrie braucht preiswerte Energie, sonst werden das viele Unternehmen nicht überleben oder ihre Produktion ins Ausland verlagern. Da die Regierung keine bezahlbare Alternative zum russischen Gas gefunden hat - amerikanisches Fracking-Gas oder Flüssiggas vom Golf sind extrem teuer und stehen auch nicht ausreichend zur Verfügung - muss Kanzler Scholz mit dem Kreml reden.
Sollte Bundeskanzler Scholz also etwa nach Moskau reisen wie etwa Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder?
Schröder kam damals mit der Botschaft zurück, dass Putin verhandeln will. Ich finde, das muss Scholz aufgreifen. Wir brauchen Verhandlungen über einen Waffenstillstand in der Ukraine und über unsere künftige wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Wenn die Bundesregierung so viele Fehler macht, müssen die Bürger dann gegen diese Regierung protestieren?
Um eine Veränderung der Politik zu erreichen, braucht es starken Protest. Wir sehen das an Frankreich, wo die Regierung die Strompreise niedrig hält und die Sprit-Preise abgesenkt hat, - aus Angst vor einem Wiederaufflammen der Gelbwestenbewegung. Die Ampel lässt die Menschen mit den rasant steigenden Energiekosten bisher weitgehend allein.
Brauchen wir eine neue Protestpartei im Land? Wollen Sie diese anführen?
Eigentlich sollte die Linke diese Aufgabe übernehmen. Ich bedaure, dass sie das nicht tut.
Sie haben 2018 die Sammlungs-Bewegung „Aufstehen” gegründet, die immerhin 170 000 registrierte Menschen hatte. Wollen Sie diese wiederbeleben?
Aufstehen hatte das Ziel, SPD und Linke wach zu rütteln, damit sie statt abgehobene Debatten zu führen, wieder Politik für normale Menschen machen. Leider ist das in den Vorständen beider Parteien auf taube Ohren gestoßen. Dadurch hatte Aufstehen nicht den Erfolg, den ich mir gewünscht hätte.
Soziale Not ist das Kernthema Ihrer Partei. Aber man hat nicht den Eindruck, dass die Linke als Oppositionspartei das Thema offensiv diskutiert. Wie kommt das?
Im Bundestag bringen wir viele Anträge ein, deren Umsetzung Armut verringern und für mehr Gerechtigkeit sorgen würde. Aber einige in der Linken führen offenbar lieber innerparteiliche Machtkämpfe statt für die Wähler da zu sein.
Nach ihrer jüngsten Rede im Bundestag mit der Kritik an Sanktionen konnte die Fraktionsführung eine Spaltung gerade noch abwenden. Sind Sie eine Zumutung für Ihre Partei?
Ich gehöre zu denen, die sehr viel positive Resonanz aus der Bevölkerung bekommen. Wenn man das als Zumutung empfindet, nun ja... Unsere Aufgabe als soziale Opposition ist es, die Ampel anzugreifen, die völlig konfus handelt und kein Konzept hat, das Land aus der aktuellen schwierigen Lage herauszuführen.
Auch bei der Flüchtlings- und Corona-Politik sind Sie immer wieder von der Parteilinie abgewichen. Passen Sie noch zur Linken?
Die Linke wurde gegründet, um sich für die einzusetzen, die es schwer haben. Ihre Programmziele sind sozialer Ausgleich, Chancengleichheit, Frieden und Abrüstung. Laut ihrem Wahlprogramm lehnt sie Wirtschaftssanktionen ab, weil sie in der Regel nicht den Machthabern, sondern der Bevölkerung schaden - im Falle der Russlandsanktionen vor allem der Bevölkerung in Deutschland.
Ihr Ehemann, der frühere SPD- und Linkspartei-Chef Oskar Lafontaine, hat 2007 die SPD verlassen und die Linke mitbegründet. Sehen Sie sich in dieser Tradition?
Es ist immer besser, wenn man gemeinsam mit seiner Partei für eine vernünftige Politik streiten kann. Die Gründung der Linken wurde notwendig, weil die SPD mit der Agenda 2010 und den Rentenkürzungen ihren sozialen Anspruch aufgegeben hatte. Auch heute haben wir eine Situation, in der viele Menschen sagen: „Eigentlich vertritt mich keine Partei.” Italien zeigt, wohin das führen kann. Wir brauchen dringend eine politische Kraft, die all diejenigen vertritt, die jetzt wütend und verzweifelt sind.
Sahra Wagenknecht: Kanzler sollte mit Putin über Gas verhandeln