"Wir haben keine soziale Marktwirtschaft mehr, sondern gewissenlosen und zunehmend rabiaten Kapitalismus"
Rede von Sahra Wagenknecht in der Haushaltsdebatte des Bundestages am 16.09.2010
Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn eine Regierung jeden
Bezug zur Realität verliert,
(Zuruf von der CDU/CSU: Dann stellt sie Die Linke!)
ist das in der Regel nicht besonders gut für das Land.
(Zuruf von der FDP: Da kennen Sie sich ja aus!)
Herr Brüderle, Sie träumen vom Wirtschaftsaufschwung mit Flügeln. Ich will Ihnen nicht Ihre Träume nehmen; aber eigentlich sollten Sie wissen, auf welch wackeligen Fundamenten das Wachstum, das wir aktuell in Deutschland haben, beruht. Sie träumen von einem Jobwunder, aber wissen ganz genau, dass Sie die Statistik fälschen, weil Sie etwa 1 Millionen Menschen, die in diesem Lande verzweifelt nach Arbeit suchen, schlicht nicht mehr erfassen und einrechnen.
Noch eine andere Zahl ist interessant: Die Summe der Löhne und Gehälter liegt heute in der Bundesrepublik inflationsbereinigt auf dem Niveau von 1991. Das muss man sich einmal vergegenwärtigen. Diese Zahl ergibt sich trotz der ganzen gefeierten tollen neuen Jobs, die angeblich geschaffen wurden: Billigjobs, Minijobs sowie Leiharbeit, die wieder auf Vorkrisenniveau boomt. All das sind Jobs, von denen Menschen eben nicht leben können. Das ist das Grundproblem.
Im Gegenzug sind die Einkommen aus Gewinnen und Vermögen in diesem Jahr schon wieder nach oben geschossen, und zwar um 22 Prozent. Herr Brüderle, das ist Ihr Aufschwung, aber er trägt nicht. Denn diejenigen, die diese dicken Einkommen beziehen, schieben das Geld nur auf die Finanzmärkte, während der Binnenmarkt und der Konsum unverändert am Boden liegen.
(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Bestechend einfach!)
Gerade deshalb ist Ihr Sparpaket eben nicht nur ein sozialer Skandal, sondern auch ein wirtschaftspolitischer Irrsinn. Sie können doch nicht im Ernst glauben, dass Sie die Wirtschaft dadurch stabilisieren, dass Sie denen, die nun wirklich jeden Euro für ihre dringendsten Lebensbedürfnisse brauchen, das letzte Geld aus der Tasche ziehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Hören Sie doch endlich auf, uns zu erzählen, das sei ein Sparpaket. Sie sparen doch gar nicht. Die annähernd 40 Milliarden Euro, die Sie Hartz-IV-Empfängern, Arbeitslosen und Geringverdienern in den nächsten Jahren aus der Tasche ziehen wollen, haben Sie doch schon vorab bei der HRE versenkt.
(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Wo wird denn da was versenkt?)
Das ist doch keine Sparpolitik. Das machen Sie wirklich: Sie arbeiten daran, den Sozialstaat im Interesse einer ungebremsten und ungehemmten Profitmacherei endgültig zu entsorgen. Das ist doch das, was hier läuft; das läuft leider seit Jahren in diesem Land.
(Beifall bei der LINKEN - Torsten Staffeldt (FDP): Beim Kollegen Ernst!)
Ich muss allerdings auch sagen, dass ich immer wieder wirklich verblüfft bin, mit welcher Selbstgefälligkeit die SPD hier den Robin Hood der sozial Entrechteten gibt. Ja, wann hat das denn alles angefangen mit Billigjobs, Rentenkürzungen, Leiharbeit und Hartz IV?
(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): In der DDR hat das angefangen! Flächendeckend!)
Das alles fing doch im Wesentlichen bei Ihnen an, unter Rot-Grün: Arbeitslose werden in übelster Weise gedemütigt, Banken finanzieren lieber Finanzwetten als innovative Mittelständler, die Löhne sinken,
(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Das war bei der SED so!)
Dividenden sind
wichtiger als Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Die Weichen in
diese Sackgassen wurden doch im Wesentlichen unter Beteiligung der SPD
gestellt.
Nun will ich jeder Partei zubilligen, dass sie sich
korrigieren kann.
(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Eurer nicht!)
Das Erschreckende ist aber: Sie korrigieren sich gar nicht. Sie tun einfach nur so, als hätten Sie mit dem in diesem Lande angerichteten sozialen Desaster einfach nichts zu tun. Da kann ich Sie nur fragen: Merken Sie überhaupt nicht, wie unglaubwürdig diese Inszenierung ist, die Sie hier immer wieder abziehen?
(Beifall bei der LINKEN)
Ich komme zurück zur Regierung. Für Walter Eucken,
(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Den kennen Sie gar nicht!)
einen der geistigen Väter des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft den Sie wahrscheinlich alle wieder nicht gelesen haben ,
(Zurufe von der SPD: Oh!)
war das Prinzip der Haftung die Voraussetzung für eine funktionierende Wettbewerbsordnung. Eucken wörtlich: Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen." Herr Brüderle, wir verlangen nicht, dass Sie auf uns, die Linke, hören, aber hören Sie wenigstens auf Walter Eucken und sorgen Sie dafür, dass diejenigen, die aus der Spekulationsparty und dem Dividendenregen den Nutzen gezogen haben, jetzt auch den Schaden tragen und nicht Arbeitslose und Geringverdiener.
(Beifall bei der LINKEN)
Aber diese Regierung hat noch nicht einmal das Kreuz, eine Politik zu machen, wie sie im Sinne von Walter Eucken wäre.
Kennen Sie übrigens den Urheber von folgendem schönen Satz:
Der Tatbestand der sozialen Marktwirtschaft ist nur dann als voll erfüllt anzusehen, wenn entsprechend der wachsenden Produktivität echte Reallohnsteigerungen möglich werden.
Es ist schon interessant, dass niemand auf die Idee kommen würde, diesen Satz irgendeinem Mitglied der aktuellen Bundesregierung zuzuordnen. Der Satz stammt von Ludwig Erhard. Wenn man seine Aussage ernst nimmt, dann ist völlig klar, dass wir in unserem Lande seit vielen Jahren definitiv keine soziale Marktwirtschaft mehr haben. Was wir tatsächlich haben, ist ein gewissenloser und zunehmend rabiater Kapitalismus, von dessen wenigen Profiteuren Sie sich die Agenda Ihrer Politik diktieren lassen: von der Atomlobby, von den Banken, von den Konzernen und von einer kleinen steinreichen Oberschicht, die Sie alle, wie Sie hier sitzen von SPD und Grünen bis FDP und CDU/CSU ,
(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Genau: alle!)
mit Ihrer neoliberalen Politik gemästet haben und immer noch mästen.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist das Grundproblem. Das ist schlimm für die Demokratie und gefährlich für die Zukunft. Es wird Zeit, dass sich die Menschen gegen Ihre verhängnisvolle Politik mit gleicher Vehemenz zur Wehr setzen, wie es die Stuttgarter gegenwärtig mit gutem Grund gegen den aberwitzigen Tunnelbahnhof tun.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)