Die „Brandmauer“ ist Brandstiftung

Artikel
, 18. Dezember 2025

Ältere Ostdeutsche dürften sich noch daran erinnern, dass ihnen schon einmal eine Mauer als „antifaschistischer Schutzwall“ verkauft wurde. Anders als an der innerdeutschen Mauer wird an der „Brandmauer“ zumindest nicht mit scharfer Munition geschossen. Aber eine Parallele gibt es: das, worüber geredet wird, ist nicht das, worum es geht.

Die SED verwies damals zur Begründung auf die vielen Altnazis, die in Justiz, Universitäten und Staatsapparat der alten Bundesrepublik überwintert hatten. Die gab es tatsächlich, aber natürlich war die Mauer nicht gebaut worden, um Altnazis von einer Übersiedlung in die DDR abzuhalten. Die „Brandmauer“ wird in der Regel mit Rechtsextremisten und schrägen Vögeln in der AfD begründet. Die gibt es tatsächlich, darunter nicht wenige, die die AfD vor wenigen Jahren noch selbst aus der Partei ausschließen wollte und die heute Fraktionsmitglieder in Land und Bund oder Landesvorsitzende sind. Trotzdem muss man ziemlich naiven Gemüts sein, um die Erzählung zu glauben, bei der „Brandmauer“ ginge es um die „Rettung unserer Demokratie“?

Worum geht es dann? Erinnern wir uns an die gewaltige Aufregung, als Friedrich Merz vor der Bundestagswahl im Parlament ein Gesetz einbrachte, dem auch die AfD zustimmen wollte. SPD, Grüne und Linke riefen das Volk zum Kampf auf die Barrikaden, die großstädtische Mittelschicht versammelte sich wieder mal auf Demonstrationen „gegen rechts“ und selbst Teile der CDU wandten sich gegen ihren Vorsitzenden, der plötzlich als Wegbereiter eines neuen Faschismus am Pranger stand. Der Inhalt der Anträge war für die Debatte vollkommen bedeutungslos. Merz hätte beantragen können anzuerkennen, dass Cristiano Ronaldo ein guter Fußballer ist. Der unentschuldbare Fauxpas war, ein Gesetz einzubringen, dem SPD und Grüne nicht zustimmen wollten und das daher nur mit den Stimmen der AfD eine Mehrheit bekommen hätte. Die Lehre für Merz: Es geht nicht darum, was du forderst, sondern es geht darum, dass du nur das forderst, wofür du den Segen der SPD, der Grünen und zur Not der Linken hast – aber unter gar keinen Umständen darfst du die AfD für eine Mehrheit brauchen. Das war die Lektion, und Merz hat sie gelernt.

Dank dieser eigenwilligen Interpretation von Demokratie stieg der Parteivorsitzende der SPD, die die Bundestagswahl krachend verloren hatte, nahtlos zum Vizekanzler der nächsten Koalition auf. Und auch auf Landesebene wird die „Brandmauer“ mit wachsender Stärke der AfD zum Dauer-Abonnement aller anderen Parteien auf Ministerposten, solange sie zumindest noch 5 Prozent erreichen. Die Folge sind Vielparteien-Koalitionen, die politisch wenig verbindet und die gemeinsam kaum etwas auf die Reihe bekommen. Ein Beispiel ist Thüringen, wo nicht nur CDU, SPD und BSW eine Regierung bilden, sondern die Linke faktisch auch noch am Kabinettstisch sitzt, weil selbst die Dreierkoalition keine eigene Mehrheit hat. Der Effekt solcher Koalitionen besteht – wenig überraschend – darin, dass die beteiligten Parteien sich gegenseitig blockieren und am Ende ihre Wähler verärgern und verlieren.

Es war ein Anfängerfehler des jungen BSW, in Thüringen in eine Regierung eingetreten zu sein, deren einziger gemeinsamer Nenner darin bestand, die AfD von allen politischen Funktionen fernzuhalten. Schneller konnte man seine Wähler nicht enttäuschen. Inzwischen ist im BSW geklärt, dass es sich an „Brandmauer“-Koalitionen in Zukunft nicht mehr beteiligen wird. Aber der Schaden ist trotzdem da.

Für die AfD hingegen war und ist die „Brandmauer“ ein großes Geschenk. Denn wo gehen die von der Anti-AfD-Koalition enttäuschten Wähler hin? Genau, zur AfD! Diejenigen wiederum, die die AfD gewählt haben, sind zu Recht immer wütender auf ein Parteienkartell, das ihre Stimme stoisch ignoriert. Schwer vorstellbar, dass auch nur einer von ihnen sich unter diesen Bedingungen wieder einer der „Brandmauer“-Parteien zuwenden könnte.

Zugleich bewahrt die Ausgrenzung die mittlerweile in Umfragen stärkste Partei vor Klärungsprozessen, die im Falle einer Regierungsbeteiligung unerlässlich wären. Dass die AfD die neue Wehrpflicht sowohl ablehnt als auch unterstützt, dass sie die Renten auf Kapitaldeckung umstellen oder nach österreichischem Vorbild reformieren will, dass sie den halben Bundeshaushalt für Aufrüstung ausgeben und trotzdem keine Schulden machen will – diese Vielstimmigkeit, die die Partei für unterschiedlichste Wähler attraktiv macht, funktioniert natürlich nur, solange sie nicht in die Verlegenheit kommt, sich als Teil oder Unterstützer einer Regierung für die eine oder die andere Position entscheiden zu müssen. Und klar ist auch: Ächtung und Ausgrenzung fördern Radikalisierung, Regierungsaussichten fördern Anpassung.

Als die AfD gegründet wurde, war sie eine konservative Professorenpartei, deren wichtigstes Thema die mangelnde Funktionsfähigkeit des Euro-Systems war. Keiner der Gründer war rechtsradikal. Statt sie in Koalitionen einzubinden – in Sachsen etwa hätte es dafür früh eine Mehrheit mit der CDU gegeben – bekam die Partei ein Nazi-Etikett, den zugehörigen Grusel- und Ekelfaktor inklusive. Entsprechend zogen sich bürgerliche Mitstreiter allmählich zurück und schwierige Zeitgenossen, Extremisten und Radikale fühlten sich angezogen. Auch deshalb hat die AfD heute weit mehr Rechtsextremisten in ihren Reihen als vor zehn Jahren, und diese Leute haben auch mehr Einfluss in der Partei.

Was also hat die „Brandmauer“ gebracht? Mehr Wähler für die AfD. Mehr Extremisten in der AfD. Schlimmer kann man kaum scheitern: Die „Brandmauer“ ist Brandstiftung. Dass es bald den ersten Landtag geben könnte, in dem die AfD keine Koalitionspartner mehr braucht und die selbsternannten Demokraten sich dann sämtlich in der Opposition ihres antifaschistischen Heldenmuts und ihrer moralischen Überlegenheit versichern können, sollte diejenigen, die die „Brandmauer“ immer noch für die „Rettung der Demokratie“ halten, vielleicht dazu bringen, mal für einen Moment die Hysterie aus- und das Denken einzuschalten.

Im Übrigen erleben wir gerade, dass es die AfD gar nicht braucht, um demokratische Spielregeln und Freiheitsrechte außer Kraft setzen. Von Social-Media-Zensur und digitaler Totalüberwachung über Cancel Culture und neue Strafrechtsparagrafen bis zum Wahlausschluss unliebsamer Kandidaten wie in Ludwigshafen oder der Weigerung, ein offenkundig fehlerhaftes Bundestags-Wahlergebnis auch nur zu überprüfen, weil das korrekte machtpolitisch nicht passen könnte: Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland stehen tatsächlich schwer unter Druck. Würde eine AfD an der Macht diesen Weg in einen neuen Autoritarismus fortsetzen, nur mit anderem Vorzeichen? Gut möglich. Aber das verhindert nicht, wer ihn ohne sie geht.

Eine demokratische Alternative zur „Brandmauer“ wären Expertenregierungen, in denen kompetente Persönlichkeiten mit Berufserfahrung und nicht Parteivertreter am Kabinettstisch sitzen und die sich die Zustimmung zu ihren Vorhaben im Parlament jeweils in der Sache suchen müssten. Dann wären alle Parteien gefordert, sich einzubringen und demokratisch gewählte Mehrheiten würden letztlich den Ausschlag geben. Ein solches Modell gäbe der parlamentarischen Demokratie eine neue Chance.

Der Beitrag erschien zuerst am 13. Dezember bei WELT.

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