„Warum ruft Merz Putin nicht an?“

Interview
, 9. September 2025

De Lapuente: Friedrich Merz macht nun auf Diplomat – die Staats- und Regierungschefs Europas lassen synchron dazu durchschimmern, dass Verhandlungen mit Russland gewissermaßen immer deren Absicht war. Wer auch immer vorher für Verhandlungsbereitschaft einstand, musste sich der Verbreitung von Kremlnarrativen bezichtigen lassen. Erfüllt Sie das mit Skepsis, dass die Köpfe der EU jetzt so sprechen, als hätten Sie teilweise das BSW-Programm gelesen?

Wagenknecht: Ich kann die Lektüre nur empfehlen, fürchte allerdings, dass sie unser Programm nicht gelesen haben … Aber im Ernst, worin besteht denn der diplomatische Beitrag der Europäer? Sie setzen alles daran, ernsthafte Friedensverhandlungen unmöglich zu machen! Erst durch die Forderung, einen Waffenstillstand zur Vorbedingung von Gesprächen zu machen, wissend, dass Russland dem nicht zustimmen wird. Und jetzt durch ihre Debatte über sogenannte »Friedenstruppen«. Der Ukraine-Krieg wurde von Russland bekanntlich nicht aus territorialer Expansionslust begonnen, sondern das wichtigste Kriegsziel der Russen besteht darin, NATO-Militär in der Ukraine zu verhindern, weil sie sich dadurch bedroht fühlen. Egal, ob man das nachvollziehen kann oder nicht, ist damit klar: solange die Drohung dieser »Koalition der Kriegswilligen« aufrechterhalten bleibt, nach einem möglichen Friedensschluss europäische NATO-Soldaten in der Ukraine zu stationieren, wird es keinen Frieden geben. Diplomatie ist ja nicht, zum x-ten Mal für eine PR-Inszenierung in die Ukraine zu fahren oder sich im Kreise der europäischen Verbündeten auf die weitere bedingungslose Unterstützung der Ukraine einzuschwören. Echte Diplomatie würde bedeuten, mit Russland zu sprechen, die russische Sichtweise verstehen zu wollen und so zu einem Interessenausgleich zu kommen. Warum ruft Merz Putin nicht an? Warum gibt es kein Bemühen, um einen europäisch-russischen Gipfel? Es ist ein historisches Versagen der europäischen Eliten, dass sie den Krieg in der Ukraine offenbar um jeden Preis verlängern wollen, obwohl er unsere Wirtschaft schädigt und unsere Sicherheit massiv gefährdet.

»Wer fordert, deutsche Soldaten in der Ukraine zu stationieren, der will Krieg«

De Lapuente: Ist alleine der Friede, also die Abwesenheit von Terror und Gewalt, nicht zu wenig für uns Deutsche? Brauchen wir nicht einen Zustand, der das deutsch-russische Verhältnis harmonisiert? Der Annäherung verpflichtend macht und damit auch wieder Handelsoptionen in Aussicht stellt?

Wagenknecht: Auf jeden Fall. Es liegt in unserem ureigensten Interesse, gute wirtschaftliche Beziehungen zu Russland zu haben. Denn ohne preiswerte russische Energie wird Deutschland als Industriestandort nicht überleben; es ist ja kein Zufall, dass unsere Wirtschaft jetzt seit drei Jahren schrumpft und die Industrieproduktion geradezu eingebrochen ist. Der selbstzerstörerische Ehrgeiz, mit dem Kanzler Merz und Kommissionpräsidentin von der Leyen darauf hinarbeiten, dass wir nie wieder günstige Energie aus Russland beziehen und uns von teurem und besonders umweltschädlichem US-Fracking-Gas abhängig machen, ist irre. Eine Bundesregierung, die die Interessen der Wirtschaft und ihrer Bürger ernst nimmt, müsste alles daransetzen, die Energiepreise wieder zu senken. Ein erster Schritt wäre, sich für die Reparatur und Wiederinbetriebnahme der Nord-Stream-Pipelines einzusetzen, damit wir wieder preiswertes russisches Gas importieren können.

De Lapuente: Die deutsche Öffentlichkeit – die veröffentlichte Meinung, besser gesagt – zeigt sich seltsam verbittert: Die üblichen Aufwiegler wollen jetzt gar die Bundeswehr in die Ukraine schicken und auf den letzten Metern der Verhandlungen eine Eskalation bewirken – vielleicht liegt es auch daran, dass sie sonst ihr Gesicht verlieren würden. Sehen Sie den verletzten Stolz dieser Leute, die sich während der letzten dreieinhalb Jahre wichtigmachten, als große Gefahr für die künftige Rolle Deutschlands in Europa?

Wagenknecht: Der Gesichtsverlust spielt vermutlich eine Rolle. Schließlich müssten sich all die Politiker, Journalisten und »Experten«, die uns jahrelang erzählt haben, mit Russland könne man nicht verhandeln und die diejenigen, die für Verhandlungen eingetreten sind, als Sprachrohre des Kremls diffamiert haben, eingestehen, dass sie die ganze Zeit danebenlagen. Aber das allein reicht nicht als Erklärung. Zum Bild gehört auch der in der politisch-medialen Elite offenbar immer noch virulente Russenhass, die schlichte Unkenntnis der deutsch-russischen Geschichte. Anders kann ich mir etwa die Haltung unseres Außenministers nicht erklären, der Russland zu unserem ewigen Feind erklärt hat. Es gibt natürlich auch diverse US-Netzwerke, die nicht auf Trumps Seite stehen, sondern die Position der US-Falken vertreten, und in die ein Teil unserer politischen Elite eingebunden ist. Trotz allem: Es wäre Deutschlands Verantwortung als führendes europäisches Land, den Weg der Verständigung und Annäherung einzuschlagen, statt die Konfrontation mit Russland zu verschärfen. Wer allen Ernstes fordert, deutsche Soldaten in der Ukraine zu stationieren, der will Krieg. Ein solches Himmelfahrtskommando muss auf jeden Fall verhindert werden.

»Es ist bereits mehr als genug deutsches Steuergeld in die Ukraine geflossen«

De Lapuente: Der US-Vizepräsident schwört Europa schon mal ein, künftig für die Ukraine aufkommen zu müssen. Welche Rolle sollte Deutschland bei etwaigen Aufbauarbeiten leisten – und ist es gewissermaßen auch unsere historische Verantwortung diesem – dann neutralen – Land aus einer Misere zu helfen, für die wir zu großen Teilen mitverantwortlich sind?

Wagenknecht: Deutschland sollte auf jeden Fall erst einmal Verhandlungen unterstützen, statt diesen Krieg mit immer mehr Waffenlieferungen zu verlängern. Aber wie absurd das es eigentlich: Die USA haben sich bereits die Seltenen Erden der Ukraine unter den Nagel gerissen und die Europäer mit der Fünf-Prozent-Vereinbarung der NATO und dem Zoll-Deal dazu verpflichtet, im großen Stil Rüstungsgüter, Gas und Öl aus den USA zu kaufen. Und jetzt wollen sie auch noch, dass wir die Folgekosten eines Kriegs schultern, der vor allem ein amerikanisch-russischer Stellvertreterkrieg war und nach wenigen Wochen hätte beendet werden können, wenn Washington die Verhandlungen in Istanbul nicht torpediert hätte? Niemand, der bei Vernunft ist, würde da mitmachen. Aber das Tragische ist, dass die europäischen Eliten diese Vasallenrolle bereitwillig annehmen. Ich finde, es ist bereits mehr als genug deutsches Steuergeld in die Ukraine geflossen. Es ist doch eine Unverschämtheit, dass unser Sozialstaat »nicht mehr finanzierbar« sein soll, aber der Ukraine gleichzeitig Waffen-Hilfen in Höhe von neun Milliarden jährlich zugesagt werden. Ein EU-Beitritt der Ukraine würde ein weiteres Milliardengrab öffnen, das dann wieder vor allem die deutschen Steuerzahler stopfen müssten. Und hier steigt die Altersarmut und unsere Schulen sind in einem erbärmlichen Zustand …

De Lapuente: Das BSW sieht sich als friedenspolitische Alternative für die Wähler. Befürchten Sie etwas, dass das Ende des Konfliktes in der Ukraine, das sich dann auch noch Merz und die Regierungen der EU als Erfolg ans Revers heften, dem BSW dieses Alleinstellungsmerkmal nimmt?

Wagenknecht: Nein. Auch wenn das Schießen in der Ukraine endlich aufhören sollte, ist ja die Kriegsgefahr nicht gebannt. Die wahnwitzige Aufrüstung, die wir gerade erleben, mit immer mehr Angriffswaffen ohne Vorwarnzeit, macht einen Krieg leider immer wahrscheinlicher. Und sei es aus einem Missverständnis heraus. Deshalb muss das dringend gestoppt werden. Die Bundesregierung, die die Bundeswehr zur »konventionell stärksten Armee Europas« machen will, scheint sich ohnehin nicht gerade auf Frieden vorzubereiten, sondern auf Krieg. Mit der Lüge, dass Russland die NATO spätestens 2029 angreifen wird, wird ein Krieg regelrecht herbeigeredet. Das alles schreit nach einer neuen Friedensbewegung, die sich entschieden gegen Bundeswehr-Soldaten in der Ukraine, gegen die Hochrüstungspolitik und gegen die Wehrpflicht stellt. Das BSW ist die einzige Partei in Deutschland, die in diesen Fragen klar ist und konsequent auf der Seite des Friedens steht. Anders etwa als die Linke, die im Bundesrat für die Kriegskredite gestimmt hat und noch schärfere Wirtschaftssanktionen gegen Russland fordert. Oder die AfD, die die Aufrüstung unterstützt und immer mehr zu einer transatlantischen Partei à la Meloni mutiert.

»Wie in der Ukraine steht die Bundesregierung auch im Nahen Osten einer Friedenslösung eher im Weg«

De Lapuente: Friedrich Merz überraschte mit seinem Waffenstopp für Israel – was ihm allerdings auf die Füße zu fallen scheint. Hat Ihnen das ein bisschen imponiert, dass der Bundeskanzler diesen Schritt auch gegen Widerstände ging?

Wagenknecht: Nein, überhaupt nicht, diese Ankündigung ist halbherzig und soll von der Mitverantwortung der Bundesregierung an dem Völkermord in Gaza ablenken. Denn der Exportstopp gilt nur für neue Rüstungsgenehmigungen und ausschließlich für Waffen, die »in Gaza eingesetzt werden könnten«. Wer soll das kontrollieren? Wie in der Ukraine steht die Bundesregierung auch im Nahen Osten einer Friedenslösung eher im Weg. Die wachsende Kriegsgefahr und die fatale Nahostpolitik sind die wichtigsten Gründe, warum wir zu einer großen Friedenskundgebung am 13. September um 14 Uhr am Brandenburger Tor in Berlin aufrufen. Auf der Bühne stehen werden Dieter Hallervorden, Gabriele Krone-Schmalz, die Rapper Bausa und Massiv, Daniel Aminati und ich. Auch Peter Maffay ruft zu der Kundgebung auf. Moshe Zuckermann wird aus Tel Aviv dabei sein und Roger Waters aus New York. Wir fordern einen sofortigen Stopp deutscher Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, ein ernsthaftes Engagement der Bundesregierung, um das Sterben im Nahen Osten und in der Ukraine zu beenden, und ein Ende des Wettrüstens. Jeder, der ein Zeichen gegen den Kriegskurs der Bundesregierung und für den Frieden setzen möchte, ist herzlich eingeladen, sich uns anzuschließen.

De Lapuente: Was uns erhalten bleiben wird, egal ob der Ukrainekrieg nun tatsächlich endet oder nicht: Die Remilitarisierung. Sehen Sie darin, wie es die Bundesregierung tut, ein Programm zur Ankurbelung der Nachfrage und damit der Wirtschaft?

Wagenknecht: Nein, im Gegenteil. Warum sollte es unserer Wirtschaft nützen, wenn wir für hunderte Milliarden Waffen von US-Rüstungskonzernen einkaufen? Und selbst bei Aufträgen an die heimische Rüstungsindustrie gilt doch, Rüstungsausgaben sind konsumtive Ausgaben. Anders als Investitionen in Infrastruktur oder Bildung schaffen sie keinen Mehrwert und steigern die Produktivität nicht. Wenn künftig allen Ernstes fast der halbe Staatshaushalt ins Militär gesteckt werden soll, wäre das katastrophal für den Lebensstandard der Menschen in Deutschland. Auch deshalb müssen wir uns diesem Aufrüstungswahn dringend entgegenstellen.

 

Zum Interview mit dem Overton-Magazin.

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