"Europa braucht Gegenwehr und eine andere Wirtschafts- und Sozialordnung!"
Rede von Sahra Wagenknecht in der Bundestagsdebatte am 11.05.2012 zur Krise in Europa
Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon verblüffend, wie schnell sich die Rhetorik ändert: Gestern ging es immer nur ums Sparen, jetzt ist plötzlich Wachstum das neue Zauberwort. Aber wenn man genauer hinhört, dann merkt man - das ist natürlich das Problem -, dass diese ganze Wachstumsrhetorik genauso verlogen ist wie vorher die Sparrhetorik. Darauf möchte ich jetzt näher eingehen.
Es wurde und wird in Europa überhaupt nicht gespart, sondern der Bevölkerung in Europa werden unter dem Vorwand der Schuldenbremse brachiale Kürzungsprogramme diktiert. Gleichzeitig werden unverändert Milliarden Euro dafür verpulvert, um Banken, Hedgefonds und Spekulanten von ihrer Verantwortung und von ihren Verlusten freizukaufen. Das läuft doch gerade.
Der nächste große Bankenrettungsschirm ESM wird in Kürze den Bundestag passieren. Wer tatsächlich diese unglaubliche öffentliche Schuldenspirale stoppen möchte, der müsste etwas dafür tun, dass genau dieser Wahnsinn ein Ende hat. Aber das ist leider noch nicht einmal von SPD und Grünen zu erwarten.
(Beifall bei der LINKEN - Thomas Oppermann (SPD): Aber von euch!)
Er müsste sich auch dafür einsetzen, beispielsweise den Wettbewerb der Steuersysteme in Europa zu beenden. Nichts davon ist mit dem Fiskalpakt vorgesehen.
Die Länder sollen die demokratische Souveränität verlieren, dass sie über ihre Ausgabenpolitik selbst demokratisch entscheiden können. Aber es ist nicht geplant, etwa in Europa höhere und vor allem einheitliche Konzernsteuern oder beispielsweise eine europaweite Millionärssteuer für sehr Reiche einzuführen, die von der Staatsverschuldung mit einem Zuwachs ihres Vermögens wesentlich profitiert haben. Nichts davon ist vorgesehen.
Das zeigt sehr deutlich: Es geht hier überhaupt nicht ums Sparen. Es geht auch gar nicht um die Schulden, die übrigens munter weiter wachsen, allen Konsolidierungs- und Kürzungsorgien zum Trotz,
(Norbert Barthle (CDU/CSU): Was denn nun?)
sondern es geht in Europa um die Zerschlagung des europäischen Sozialstaats und die Außerkraftsetzung der Demokratie.
(Volker Kauder (CDU/CSU): Jetzt ist es raus!)
Darauf läuft Ihre Politik hinaus, und damit fahren Sie Europa im Eiltempo gegen die Wand. Das müssen wir ändern.
(Beifall bei der LINKEN)
Welche Art Wachstum mit dieser Art von Politik erreicht werden kann, kann man besonders krass in Griechenland besichtigen: ein beispielloses Wachstum der Arbeitslosigkeit ‑ die Jugendarbeitslosigkeit wurde schon erwähnt ‑, ein sagenhaftes Wachstum der Armut und der Obdachlosigkeit und ein erschreckendes Wachstum der Selbstmordraten. Die griechische Wirtschaftsleistung dagegen ist allein in den letzten zwei Jahren um 11 Prozent geschrumpft, und die privaten Investitionen sind sogar um 50 Prozent eingebrochen.
Ist das Ihr Modell für Europa, eine verzweifelte Bevölkerung auf der einen Seite, der Löhne, Renten, Gesundheitsleistungen und Bildung gnadenlos weggekürzt werden, und eine reiche Oberschicht auf der anderen Seite, deren Vermögen allen Krisen zum Trotz nach wie vor kräftig weiterwächst? Ich finde, es ist gut, dass sich die Menschen in Europa gegen dieses Modell immer stärker zur Wehr setzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Man muss es immer wieder deutlich sagen: Ein öffentlicher Haushalt hat nicht nur eine Ausgabe-, sondern auch eine Einnahmeseite. Man muss nicht Renten kürzen und Schulen und Straßen verrotten lassen, damit die Schulden nicht aus dem Ruder laufen. Man könnte ja auch die Reichen mal wieder etwas heftiger besteuern, nachdem sie jahrelang immer nur entlastet wurden.
(Beifall bei der LINKEN)
Diese Entlastungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Steuerpolitik in Deutschland, von Rot-Grün bis Schwarz-Gelb.
Hätten wir in der Bundesrepublik heute noch die Steuergesetze der Ära Helmut Kohl mit dem höheren Spitzensteuersatz und einer deutlich höheren Unternehmensbesteuerung, dann hätten Bund, Länder und Gemeinden immerhin 75 Milliarden Euro mehr Einnahmen im Jahr. Allein ein Land wie Nordrhein-Westfalen hätte 7,5 Milliarden Euro im Jahr mehr zur Verfügung.
(Otto Fricke (FDP): Nein! Die hätten das längst ausgegeben!)
Das heißt, bei gleichen Ausgaben gäbe es heute gar kein Defizit; man würde vielmehr einen Überschuss von 4,5 Milliarden Euro erzielen, die man für ein Sozialticket und eine bessere Ausstattung der Kommunen verwenden könnte. Das wäre alles möglich gewesen.
(Beifall bei der LINKEN - Michael Roth (Heringen) (SPD): Helmut Kohl!)
Die tollen Strukturreformen, die Sie jetzt den anderen Euro-Ländern als Wachstumsbringer andienen, sind zum Teil in Deutschland Realität ‑ das ist wahr ‑: die Agenda 2010, die Deregulierung des Arbeitsmarktes, Hartz IV und die Zerschlagung der gesetzlichen Rente. Was ist dabei herausgekommen? Herausgekommen ist seit dem Jahr 2000 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 1 Prozent. Das ist weniger als in Frankreich und viel weniger als in früheren Jahren der alten Bundesrepublik. Herausgekommen sind Wirtschaftsaufschwünge, die regelmäßig an der Mehrheit der Menschen vorbeigehen. Herausgekommen sind Aufschwünge der Profite, der Leiharbeit und Werkverträge. Herausgekommen ist eine Situation, in der immer mehr Menschen nicht mehr von ihrer Arbeit leben können, geschweige denn, dass sie noch irgendeine Aussicht auf eine auskömmliche Rente haben.
Das ist die wahre Bilanz der Agenda 2010. Es ist peinlich, Herr Heil, dass die SPD noch heute darauf stolz ist, dass sie die Grundlage dafür gelegt hat.
(Beifall bei der LINKEN)
Nun sollen dieser Generalangriff auf den Wohlstand der großen Mehrheit und die miserable Lohnentwicklung, die wir infolgedessen in Deutschland seit Jahren haben und die inzwischen auch Herrn Schäuble aufgefallen ist, offensichtlich als Erfolgsmodell auf ganz Europa übertragen werden. Dazu kann ich nur sagen: Gute Nacht, Europa!
Wer tatsächlich aus dem entstandenen Desaster Konsequenzen ziehen möchte, der müsste als Allererstes den ESM und auch den Fiskalpakt da hinwerfen, wo sie hingehören: in den Reißwolf.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn die SPD einen Rest von sozialem Verantwortungsgefühl hätte, dann würden Sie sich nicht immer nur heldenhaft zur Grundsatzkritik aufplustern und am Ende doch immer wieder Merkels Katastrophenkurs brav die Stimme geben. Dann würden Sie diese Art von Politik nämlich stoppen müssen. Aber Sie haben eben diese soziale Verantwortung nicht.
(Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bedauerlicherweise!)
Das ist bedauerlich.
(Beifall bei der LINKEN)
Eine Politik, die wild entschlossen scheint, demokratische Rechte immer dann außer Kraft zu setzen, wenn die Interessen der Finanzlobby und der Finanzbranche berührt sind, werden sich die Menschen in Europa auf Dauer nicht mehr gefallen lassen. Das ist das Ergebnis, und das zeigen die Wahlen in Griechenland und Frankreich schon deutlich. Es wird noch mehr geben.
Auch in Deutschland werden die Menschen beginnen, sich zu wehren, selbst wenn jetzt wie in Frankfurt versucht wird, solche Proteste schlicht zu verbieten. Das wird nicht gelingen; das sage ich Ihnen.
Europa braucht Gegenwehr. Denn Europa braucht eine andere Wirtschafts- und Finanzordnung. Dafür kämpft die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)