Feste Regeln für alle!
Gastkommentar von Sahra Wagenknecht, erschienen im Handelsblatt am 15.06.2012
Europa braucht keine mächtigeren Kommissare und Zentralbanker, sondern verbindliche wirtschaftspolitische Standards
Es ist der entscheidende Fehler der europäischen Integration, dass auf Deregulierung gesetzt wurde, wo einheitliche Regeln notwendig gewesen wären, und auf den Markt, wo es einer abgestimmten Politik bedurft hätte.
Wenn Europa als Einheit überleben soll, darf es nicht dem Markt überlassen werden. Das beinhaltet ausdrücklich nicht den Ruf nach einer europäischen Wirtschaftsregierung, die die Souveränität der Mitgliedstaaten außer Kraft setzt. Das Haushaltsrecht gehört zu den elementaren Rechten eines nationalen Parlaments und darf ihm, ohne die Demokratie in ihren Grundfesten zu zerstören, nicht genommen werden.
Zwar sind längst auch viele Regierungen bereit, gegen Mehrheiten Politik zu machen. Noch weit mehr gilt das aber für Brüsseler Behörden, die schon gar keiner demokratischen Kontrolle unterliegen. Zusätzliche Kompetenzen an das Europaparlament abzugeben, wäre auch keine gute Idee. Ein Vielvölkerparlament, das weit weg von den Wählern und Wahlkreisen liegt, wird weniger öffentlich beaufsichtigt als die nationalen Parlamente und damit immer leichter durch zahlungskräftige Lobbys steuerbar sein. Der Einfluss der Wirtschaft, ja Käuflichkeit ist in Brüssel heute höher als auf nationaler Ebene. Mehr Befugnisse nach Brüssel oder gar Frankfurt oder Berlin zu verlagern, wäre das Ende der Demokratie.
Europa braucht keine machtvollkommenen Kommissare oder Zentralbanker, die in die einzelnen Länder hineinregieren, sondern mehrheitlich vereinbarte und vertraglich festgelegte Regeln und Standards, die für alle Länder gelten und eingehalten werden müssen. Solche verbindlichen gemeinsamen Leitlinien wären die demokratische Alternative zu einer den nationalen Regierungen übergeordneten Europäischen Wirtschaftsregierung. Ohne eine abgestimmte Wirtschaftspolitik kann die Europäische Währungsunion nicht auf Dauer überleben.
Die EU ist bekannt für ihre detailwütigen Normen. Ausgerechnet in Grundfragenfehlen diese jedoch. In der Steuerpolitik sind einheitliche europäische Mindeststeuersätze für Unternehmen und Geldvermögen als Alternative zu jenem Steuerdumpingwettlauf überfällig, den wir seit Jahren erleben. Für Löhne müsste europaweit als Untergrenze gelten, dass diese mit der Produktivität plus Inflationsrate steigen.
Das europäische Sozialmodell war nie Gegenstand europäischer Verträge. Vielmehr haben diese ihm die Grundlage entzogen. Der Fiskalpakt bedeutet eine europaweite Sozialzerstörungsunion, in der Rentner, Beschäftigte und Arbeitslose für die Milliarden bluten, die im maroden Finanzsektor versenkt wurden und werden.
Wenn Europa das werden soll, als das es in den Proklamationen und Erklärungen gestartet ist, braucht es eine völlig neue vertragliche Grundlage. Diese zu schaffen wäre die Aufgabe der Gegenwart, wenn Europa eine gemeinsame Zukunft haben soll.
Der Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug aus dem Buch "Freiheit statt Kapitalismus."