Sahra Wagenknecht

»DIE LINKE wird der Europapolitik für Banken und Millionäre auch in Zukunft vehement widersprechen«

Rede von Sahra Wagenknecht in der Bundestagsdebatte am 13.02.2014 zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung

13.02.2014


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Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich lese Ihnen einmal vor, was ein tapferer Oppositionspolitiker vor etwa einem Jahr an diesem Pult der schwarz-gelben Regierung entgegengeschleudert hat:

25 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten in sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnissen …

(Hubertus Heil (Peine) (SPD): Ja! Das ändern wir!)

Jeder zweite neu zu besetzende Arbeitsplatz ist befristet. …

(Hubertus Heil (Peine) (SPD): Das ändern wir!)

Wir reden in Deutschland nicht nur über Altersarmut. Wir reden auch über Jugendarmut, Familienarmut, die Armut der Alleinerziehenden … Früher galt in unserem Land: Fleiß und Anstrengung lohnen sich. Heute führt nicht Leistung zum Aufstieg, sondern Beziehungen, Herkunft, Vermögen, im Zweifel Erbschaften. … 80 Prozent der Gemeinwohllasten werden von den ganz normalen Menschen … getragen. Nur 12 Prozent der Gemeinwohllasten tragen die Einkommensbesitzer von Kapital und Vermögen.

So weit die Anklage.

Tja, der tapfere Oppositionspolitiker ist heute Wirtschaftsminister, redet von sozialer Marktwirtschaft und guten Löhnen. Herr Gabriel, das ist vollkommen unglaubwürdig. Was wollen Sie an den hier kritisierten Verhältnissen in der Substanz wirklich ändern? Gar nichts wollen Sie ändern, wenn ich Ihren Koalitionsvertrag richtig gelesen habe.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der SPD: Falsch gelesen!)

Sachgrundlose Befristung verbieten? Fehlanzeige. Werkverträge, Leiharbeit? Nichts als heiße Luft. Nach neun Monaten soll es gleiche Bezahlung geben. Aber so lange ist leider kaum einer in einem Unternehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Kinderarmut? Altersarmut? Die Verbesserungen bei der Rente, die Sie ja vornehmen, gehen aber an den wirklich von Altersarmut Bedrohten oder Betroffenen komplett vorbei. Oder gar Vermögensteuer oder höherer Spitzensteuersatz für Reiche? Gott bewahre.

Während Sie hier den Macher spielen, Herr Gabriel, ist Ihre Politik in Wahrheit jämmerlich, weil Sie alles fortsetzen, was vorher der Fall war.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt erzählen Sie uns etwas von Beschäftigungsboom und fröhlichen Konsumenten. Das ist wirklich sehr originell. Als uns Herr Rösler das Gleiche erzählt hat, sahen die Ergebnisse so aus: 0,7 Prozent Wachstum 2012 und 0,4 Prozent Wachstum 2013, also Stagnation. Selbst diese wäre ohne den riesigen Exportüberschuss nicht möglich gewesen. Aber jetzt soll ja die große Konsumwelle auf Deutschland zurollen.

Nun habe ich mit Zustimmung zur Kenntnis genommen, dass Sie die Tarifforderungen zum Beispiel von Verdi unterstützen. Ich hoffe, dass das nicht nur Dampfplauderei ist. Wenn das tatsächlich Koalitionsposition ist, dann müssten diese Verhandlungen ja relativ schnell zum Abschluss kommen. Das wäre ohne Zweifel gut.

(Beifall bei der LINKEN)

Allerdings reicht das nicht. Es ist doch kein Zufall, dass exakt seit der Agenda 2010 in Deutschland der Konsum stagniert.

(Hubertus Heil (Peine) (SPD): Ach Gottchen!)

- Schauen Sie sich doch die Einzelhandelsumsätze an! Ja, es steigen die Ausgaben für Lebensmittel, Energie und Mieten. Aber der Einzelhandel stagniert und hatte im letzten Dezember sogar einen Einbruch zu verzeichnen, und das nicht, weil die Menschen in Deutschland keine Lust mehr haben, sich Geschenke zu Weihnachten zu machen. Vielmehr stagniert der Einzelhandel, weil die Lohnentwicklung nach wie vor mies ist. Das letzte Jahr war eben kein positives Beispiel. Der Einzelhandel stagniert, weil die Rentenentwicklung nach wie vor miserabel ist, weil seit Jahren die Rentenerhöhungen noch nicht einmal die Inflation ausgleichen.

Natürlich fressen auch die explodierenden Strompreise, die Sie nicht senken wollen, einen großen Teil des Haushaltsbudgets der Menschen weg. Das heißt, es liegt letztendlich daran, dass die Menschen schlicht nicht mehr genug Geld im Portemonnaie haben, um sich den Konsum leisten zu können, den sie sich liebend gern leisten würden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Daran wird sich nichts ändern, solange Sie an Leiharbeit, Werkverträgen, Hartz IV und Rentenkürzungen festhalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen zum Mindestlohn: Wir brauchen nicht löchrige 8,50 Euro irgendwann, sondern endlich 10 Euro die Stunde, und zwar sofort und flächendeckend. Das entspricht auch dem Maßstab unserer europäischen Nachbarländer.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch die Investitionen sollen plötzlich brummen, sagt Herr Gabriel. Man fragt sich nur, warum. Etwa seit der Jahrtausendwende investieren deutsche Unternehmen deutlich weniger als ihre Wettbewerber, und das, obwohl die Gewinne gerade großer Unternehmen wegen Lohndrückerei und Steuerentlastungen sprudeln wie nie zuvor. Aber was haben denn diese Unternehmen mit den ganzen geschenkten Milliarden gemacht? Sie haben jährlich etwa viermal so viele Dividenden ausgeschüttet wie in den 90er-Jahren üblich. Sie haben die Gehälter ihres Topmanagements hochgetrieben, und sie haben über 300 Milliarden Euro als Barreserven gebunkert. Das heißt, das ganze geschenkte Geld ist direkt auf die Konten der oberen Zehntausend geflossen. Mästung der Millionäre zulasten von Beschäftigten und öffentlichen Einnahmen, das war die Politik der Bundesregierung, und genau diese Politik setzen Sie fort, Herr Gabriel.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch die öffentlichen Investitionen, von denen Sie geredet haben, sind seit Jahren auf einem Tiefstand. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat im letzten Jahr vorgerechnet, dass die öffentliche Hand 80 Milliarden Euro mehr im Jahr investieren müsste, um wenigstens den Verschleiß der öffentlichen Infrastruktur ‑ Straßen- und Schienennetze usw. ‑ auszugleichen. Jetzt kündigen Sie fröhlich mehr öffentliche Investitionen an. Angesichts der steuerpolitischen Entscheidungen der Großen Koalition fragt man sich allerdings: Haben Sie neuerdings eine Maschine zum Gelddrucken? Oder wer soll es bezahlen, vielleicht am Ende die Autofahrer über die Maut? Die kleinen Leute abzukassieren, weil man sich an die Millionäre und Großverdiener nicht herantraut, das war schon der gemeinsame Nenner der letzten Großen Koalition. Aber eine solche Politik kann nur in die Stagnation oder zu Schlimmerem führen. Das erleben wir ja europaweit.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Ökonom Paul Krugman hat vor kurzem festgestellt, dass Europa heute eine schlechtere Wirtschaftsentwicklung vorzuweisen hat als nach der großen Weltwirtschaftskrise in den 30er-Jahren. Wer dafür verantwortlich ist, sagt er auch, und zwar in ziemlich deutlichen Worten ‑ ich zitiere Krugman ‑:

Es stimmt schon, harthäutige, starrköpfige Konservative haben die Politik bestimmt, aber ermutigt und begünstigt worden sind sie von rückgratlosen, wirrköpfigen Politikern der gemäßigten Linken.

Rückgratlose, wirrköpfige Politiker, das ist das Urteil des Wirtschaftsnobelpreisträgers Krugman über Leute wie Sie, Herr Gabriel.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun habe ich zur Kenntnis genommen, Herr Gabriel, dass jemand, der die EU-Kommission eher für einen Hort des Wirtschaftsliberalismus und Wirtschaftslobbyismus als für ein glühendes Beispiel funktionierender Demokratie hält, in Ihren Augen ein Antieuropäer ist.

(Thomas Oppermann (SPD): Das Zitat war nicht vollständig! Zitieren Sie mal vollständig!)

Aber da muss ich Sie, Herr Gabriel, wirklich bemitleiden, weil Sie von Antieuropäern in diesem Sinne offensichtlich geradezu umzingelt sind. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass die Herren Habermas, Nida-Rümelin und Bofinger im letzten August einen Aufsatz verfasst haben, nachdem sie sich mit Ihnen unterhalten haben, in dem es hieß, dass die Entwicklung Europas als ‑ Zitat ‑ „Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie" zu kritisieren ist. Fassadendemokratie! Dieses europafeindliche Machwerk hat die SPD bis heute auf ihrer Webseite stehen. Also nicht nur in der Linken, Herr Gabriel, offensichtlich auch in Ihrer Partei lauern die Europafeinde.

(Beifall bei der LINKEN)

Die waren es wahrscheinlich auch, die Jürgen Habermas zu Ihrer letzten Klausur eingeladen haben, auf der er Ihnen ziemlich deutlich gesagt hat, was er von Ihrer Europapolitik hält. „Europaumarmende Sonntagsrhetorik" sei das, während Sie gleichzeitig ‑ ich zitiere Habermas ‑ „eine strikt anlegerfreundliche Politik" betreiben, „um den Preis der politischen Entwürdigung ganzer Völker" und ihres sozialen Absturzes. Europäische Völker entwürdigen und in den sozialen Absturz treiben und gleichzeitig die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler mit immer neuen Milliardenbeträgen zur Rettung von Banken und Anlegern belasten, das ist offensichtlich in Ihren Augen, Herr Gabriel, eine proeuropäische Politik. Da kann ich nur sagen: Wenn Europa solche Freunde hat, dann braucht es keine Feinde mehr.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Linke jedenfalls wird Ihrer Europapolitik für Banken und Millionäre auch in Zukunft vehement widersprechen, und das Gleiche gilt für Ihre Wirtschaftspolitik, die nichts daran ändern wird, dass dieses Land sozial und wirtschaftlich immer tiefer gespalten ist.

(Beifall bei der LINKEN)