Sahra Wagenknecht

"Frau Merkel, lösen Sie sich aus dem Schlepptau der US-Kriegspolitik."

Rede von Sahra Wagenknecht in der Debatte des Deutschen Bundestags am 04.06.2014 zur Regierungserklärung zur EU und zum G-7-Gipfel

04.06.2014

Zum Video der Rede

Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, es ist ja neuerdings in der deutschen Debatte zu einem Vorwurf geworden, wenn jemand versucht, etwas zu verstehen. Ich glaube, zumindest das kann man Ihnen, Frau Merkel, nicht vorwerfen: Sie sind wirklich keine Versteherin weder von Russland noch von Frankreich noch von anderen Ländern , Sie glauben offenbar eher, die Probleme von oben herab lösen zu können.

(Beifall bei der LINKEN)

"Wir müssen aufhören, eine hochgefährliche halbhegemoniale Stellung, in die die Bundesrepublik wieder hineingerutscht ist, in alter deutscher Manier rücksichtslos auszuspielen." Das schreibt Ihnen und der gesamten Bundesregierung der Philosoph Jürgen Habermas ins Stammbuch. Er meint damit vor allem, aber nicht nur den demütigenden Umgang mit Frankreich.

Am 25. Mai ist bei den Europawahlen in Frankreich der Front National von Marine Le Pen stärkste politische Kraft geworden. Auch in anderen europäischen Ländern haben nationalistische, rechtspopulistische, teils offen faschistische Kräfte wie die Goldene Morgenröte in Griechenland kräftig zugelegt. Wenn das nicht als Weckruf taugt, dass es in Europa nicht so weitergehen kann wie bisher, worauf wollen Sie dann noch warten?

(Beifall bei der LINKEN)

Darauf, dass Frau Le Pen französische Präsidentin wird?

Und jetzt sagen Sie nicht, Deutschland habe mit der wirtschaftlichen Misere in Frankreich nichts zu tun. Die Agenda 2010 war nicht nur eine massenhafte Enteignung deutscher Arbeitnehmer, die heute im Schnitt 3,6 Prozent weniger Lohn bekommen als im Jahr 2000, sondern das durch Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs, sachgrundlose Befristung ermöglichte Lohndumping deutscher Unternehmen war natürlich auch ein massiver Angriff auf die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Konkurrenten, denen solche Knebelinstrumente zur Erpressung ihrer Arbeitnehmer nicht zur Verfügung standen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Auch damit hängt zusammen, dass zum Beispiel Länder wie Frankreich und Italien seit Einführung des Euro einen erheblichen Teil ihrer industriellen Kapazitäten verloren haben.

Der französische Mindestlohn liegt mit 9,53 Euro über 1 Euro höher als der Mindestlohn, den Sie jetzt mit dem Gestus einer sozialen Heldentat endlich in Deutschland einführen wollen und den Sie auch noch durch Ausnahmen durchlöchern werden.

Sicher, nach Ihrer Logik könnte Frankreich seinen Mindestlohn natürlich auch absenken. Wahrscheinlich sehen Sie es sogar als Erfolg Ihrer Politik an, dass mittlerweile unter dem Druck der Krise die Löhne europaweit sinken; dass ein Großangriff auf Arbeitnehmerrechte gleich der Agenda 2010 jetzt in ganz Europa läuft; dass überall die Ausgaben für Bildung, für Gesundheit, für Renten zusammengestrichen und die Sozialsysteme zerstört werden.

Aber finden Sie es wirklich so erstaunlich, dass sich immer mehr Menschen von einem Europa abwenden, das sie als Lobbyistenklub für Banken und große Unternehmen empfinden und das sie verantwortlich machen für die Zerstörung ihrer Arbeitsplätze, für die Zerstörung ihrer sozialen Sicherheit und ihres Wohlstands; dass immer mehr Menschen eine EU als Bedrohung empfinden, die nichts mehr zu tun hat mit den großen Ideen der Freiheit, der Demokratie, der Solidarität und der Sozialstaatlichkeit, die sie stattdessen entmündigt und ihre demokratischen Entscheidungsmöglichkeiten einschränkt, eine EU, die unter Solidarität nur noch den perversen Vorgang versteht, Hunderte Milliarden für Rettungsschirme zu verpulvern, die am Ende nur reichen Anlegern und Banken etwas nützen, eine EU, die mit ihrem Marktfanatismus und ihrer Wirtschaftshörigkeit die Kluft zwischen Arm und Reich in Europa immer tiefer aufreißt?

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Linke Politik verursacht die Situation in Frankreich! Linke Politik!)

Wer sich wundert, dass auf einem solchen Boden die nationalistische und rechtspopulistische Saat gedeiht, der hat nichts, aber auch wirklich gar nichts verstanden.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist auch Ihre Saat, Frau Merkel, das ist auch das Ergebnis der von Ihnen verantworteten Politik.

(Beifall bei der LINKEN - Henning Otte (CDU/CSU): Zum Glück sehen 92 Prozent der Deutschen das anders!)

Wer glaubt, eine Lösung der Euro-Krise sei auf den Weg gebracht, weil Hedgefonds inzwischen wieder griechische Staatsanleihen kaufen, der verwechselt die Welt der Finanzzocker mit dem realen Leben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ein arbeitsloser Jugendlicher in Spanien, der auf absehbare Zeit keine realistische Chance auf einen Wiedereinstieg ins Arbeitsleben hat, oder ein diabeteskranker Grieche, der nicht mehr weiß, wie er sein Insulin bezahlen soll, die haben den Luxus einer solchen Verwechslung nicht; ihr Leben spielt in der realen Welt, und sie spüren, dass diese ihnen kaum noch eine Zukunft bietet.

Wenn sich das nicht ändert, wenn die Krisenlasten nicht endlich von denen getragen werden, die von der ganzen Party profitiert haben, wenn die Armut in Europa weiter wächst und wenn der soziale Ausgleich scheitert, dann scheitert Europa, und das ist dann auch Ihre Mitverantwortung, Frau Bundeskanzlerin.

(Beifall bei der LINKEN)

In der Ukraine ist Europa schon gescheitert. Das Land versinkt in einem blutigen Bürgerkrieg. Wie schön klangen doch die blumigen Versprechungen, die Sie den Ukrainern noch vor wenigen Monaten gemacht haben. Angeblich wollte die deutsche Regierung die Kräfte, die für Demokratie, für Freiheit und für Europa sind, gegen jene unterstützen, die für Oligarchie, für Armut und für Korruption stehen. Heute unterstützen Sie eine Regierung, der vier Minister einer offen antisemitischen und antirussischen Nazipartei angehören, eine Regierung, die den Konflikt erst richtig angeheizt hat und heute brutal Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt.

(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie mitbekommen, dass dort Wahlen waren?)

Sie stützen einen Präsidenten, der seine Wahlkampagne mit seinem milliardenschweren Raubvermögen und einem eigenen Fernsehsender betrieben hat, einen Oligarchen, der dem früheren Staatschef Janukowitsch an Korruption, Gangstertum und krummen Geschäften in nichts nachsteht und der übrigens auch einmal sein Minister war.

Damit es nicht zu peinlich wird, belügen Sie die Öffentlichkeit hinsichtlich der wahren Situation in der Ukraine, zu der eben gehört, dass schwerreiche Oligarchen wie afghanische Warlords eigene Privatarmeen finanzieren und das Land schamlos ausplündern, während ein Großteil der Ukrainer in drückender Armut lebt, einer Armut, die sich infolge der jetzt dem Land von der EU und vom IWF diktierten Kürzungen weiter verschärfen wird. Sie verschweigen, dass bewaffnete Schlägertrupps des rechten Sektors nach wie vor auf dem Maidan campieren, dass sich Linke in vielen Teilen der Ukraine nicht mehr ohne Gefahr für Leib und Leben frei bewegen können und dass die Regierung statt einer Entwaffnung dieser marodierenden Nazibanden lieber ein Parteiverbot der Kommunistischen Partei betreibt.

Der Mord an über 40 Zivilisten in einem Gewerkschaftshaus in Odessa, das von diesem rechten Mob angezündet wurde und in dem die Opfer lebendig verbrannten, ist leider keine russische Propaganda, sondern grausame Realität,

(Beifall bei der LINKEN)

eine Realität, die mit dem von Ihnen gemalten Bild einer weltoffenen proeuropäischen Ukraine nichts zu tun hat.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN Henning Otte (CDU/CSU): Vereinzelter Applaus!)

Ist es nicht geradezu verantwortungslos, einer Regierung, die so offenkundig elementarste demokratische Maßstäbe verletzt, auch noch mit Milliarden an EU-Geld unter die Arme zu greifen? Wäre es nicht sehr viel naheliegender, sich dafür einzusetzen, dass die Raubvermögen der Oligarchen endlich der ukrainischen Bevölkerung zurückgegeben werden? Da liegt genug Geld, um die Finanzprobleme der Ukraine zu lösen.

(Beifall bei der LINKEN Max Straubinger (CDU/CSU): Wie ist denn das in Russland? Volker Kauder (CDU/CSU): Wo sind denn die schwarzen Kassen von euch?)

Schluss mit Oligarchie und Korruption! Demokratie und bessere soziale Absicherung: Das waren die Anliegen der ursprünglichen Maidan-Bewegung. Sie wurden von den aktuellen Machthabern in Kiew komplett verraten auch von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, indem Sie diese Machthaber unterstützen.

(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber die Maidan-Bewegung war doch von Amerika gesteuert!)

Was für die EU gilt, das gilt genauso für die Ukraine. Nur wenn die Menschen eine soziale Perspektive haben, wird auch das Land eine haben.

Die erste Bedingung dafür ist ein Ende des Bürgerkriegs. Der neue Präsident unternimmt noch nicht einmal den Versuch, die Lage zu deeskalieren. Er will keine Gespräche und keine Verhandlungen, sondern den gnadenlosen Einsatz militärischer Gewalt, obwohl jede Erfahrung lehrt, dass es in Bürgerkriegen keine schnellen Siege gibt, sondern nur endloses Blutvergießen.

Frau Merkel und Herr Steinmeier, wenn Sie nach all den Fehlschlägen Ihrer Ukraine-Diplomatie zu einer verantwortungsvollen Außenpolitik zurückkehren wollen, dann setzen Sie Poroschenko unter Druck, den Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu stoppen

(Beifall bei der LINKEN)

und den Weg zu Verhandlungen und einem Waffenstillstand zu eröffnen. Dann können Sie das Putin auch glaubwürdig sagen und ihn entsprechend unter Druck setzen.

(Max Straubinger (CDU/CSU): Unglaublich! Was zahlt der Putin für solche Reden?)

Dazu gehört es aber eben, die legitimen Interessen aller Seiten ernst zu nehmen. Genau das hat der Westen gegenüber Russland über Jahre sträflich vernachlässigt. Heute sieht es doch selbst der frühere US-Verteidigungsminister Robert Gates so, dass die NATO-Osterweiterung ein Fehler war, ein Fehler, der - so Gates wörtlich - "die Ziele der Allianz untergrub und das, was die Russen als ihre nationalen Lebensinteressen betrachteten, verantwortungslos ignorierte."

Genauso verantwortungslos ist es, über Artikel 10 des EU-Assoziierungsabkommens die Ukraine in eine gemeinsame Verteidigungspolitik mit der EU und damit faktisch in eine Kooperation mit der NATO einbinden zu wollen. Genauso verantwortungslos ist die absurde Sanktionsdebatte, die das Klima weiter verschlechtert

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

und die das Potenzial hat, der deutschen und der europäischen Wirtschaft massiv zu schaden, während sich US-amerikanische Gas- und Ölkonzerne ins Fäustchen lachen.

Es gibt keinen Frieden und keine Sicherheit in Europa ohne oder gegen Russland.

(Beifall bei der LINKEN)

Es liegt deshalb in der unbedingten Verantwortung der Bundesregierung, sich klar und entschieden gegen Obamas erschreckende Kriegsrhetorik und die angekündigte Truppenstationierung in Osteuropa auszusprechen. Wir brauchen keine weitere militärische Provokation.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Haben Sie das Putin auch schon gesagt?)

Wir brauchen auch nicht noch mehr Waffen in dieser waffenstarrenden Welt.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wer genau 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges und nach den Gräueln des Zweiten Weltkrieges immer noch über führbare Kriege inmitten von Europa nachdenkt und fantasiert,

(Henning Otte (CDU/CSU): Sagen Sie das doch mal Putin!)

der ist, muss ich sagen, krank im Kopf und der muss in die Schranken gewiesen werden, egal ob er Obama, Rasmussen oder sonst wie heißt.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb, Frau Merkel: Lösen Sie sich endlich aus dem Schlepptau dieser US-Kriegspolitik.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Zurufe von der CDU/CSU: Oh! - Henning Otte (CDU/CSU): Sie nehmen die Realität nicht zur Kenntnis! - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Absurd!)

Setzen Sie sich - möglichst gemeinsam mit Frankreich - dafür ein, dass Europa sich diesem Eskalationskurs verweigert. Der französische Historiker Emmanuel Todd hat Deutschland ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Wer? Trotzki?)

- Emmanuel Todd. Falls Sie den Namen noch nicht gehört haben, sollten Sie sich einmal belesen.

(Alexander Ulrich (DIE LINKE): Manchmal ist Lesen hilfreich! - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Emmanuel Trotzki?)

Ich zitiere ihn: "Unbewusst ... sind die Deutschen heute dabei, ihre Katastrophen bringende Rolle für die anderen Europäer und eines Tages auch für sich selbst wieder einzunehmen."

(Henning Otte (CDU/CSU): Das ist eine Frechheit!)

Wenn Ihnen das nicht zu denken gibt, wenn Sie das als Frechheit denunzieren, dann tut es mir wirklich leid.

(Max Straubinger (CDU/CSU): Was ist es denn sonst?)

Frau Bundeskanzlerin, die deutsche Europapolitik stand einmal in einer anderen Tradition. Sie stand in einer Tradition, die begründet wurde durch den Bruderkuss Charles de Gaulles und Adenauers im Elysée, durch den Händedruck Mitterrands und Helmut Kohls über den Gräbern von Verdun und durch den Kniefall Willy Brandts in Warschau, mit dem er Deutschland für immer verpflichtete, gegen Judenhass und Rassismus in aller Welt vorzugehen, und der den Geist seiner Ost- und Entspannungspolitik symbolisch zum Ausdruck brachte. Knüpfen Sie endlich wieder an diese Tradition der deutschen Außen- und Europapolitik an!

(Beifall bei der LINKEN)