Sahra Wagenknecht

Die große Enteignung - Der Zerstörungsfeldzug gegen die gesetzliche Rentenversicherung

31.01.2008
Artikel von Sahra Wagenknecht, erschienen in der Tageszeitung "junge welt" am 31.01.08

Der Zerstörungsfeldzug gegen die gesetzliche Rentenversicherung sorgt für einen stetigen Geldzufluß auf die Finanzmärkte. Bezieher kleinerer Einkommen werden um ihre Ersparnisse betrogen.

Da sage keiner, der vielgelobte »Wirtschaftsweise« Bert Rürup habe kein soziales Herz. Ihn, der jahrelang den Totschlägern einer armutsfesten Rente die Instrumente gereicht hat, der nicht müde wurde, ihre undankbare Arbeit öffentlich immer wieder ins gute Licht zu rücken und durch fleißiges Anfeuern jeder Ermattung vorzubeugen, ihn packt es plötzlich. So leblos und tot wie die Rente jetzt am Boden liegt und nicht einmal mehr zuckt und stöhnt, nein, das ist auch wieder nicht gut, mag er sich gesagt haben. Wer 35 Beitragsjahre in der gesetzlichen Rentenversicherung nachweise, fordert Rürup plötzlich, der solle im Alter auf jeden Fall »eine Rente geringfügig über dem Niveau der Grundsicherung« erhalten. Wo die Beiträge dazu nicht ausreichen, sollte der Rentenanspruch aus Steuermitteln aufgestockt werden. Die private Vorsorge aus den Riester-Verträgen dürfe dabei nicht angerechnet werden.

Seit Rürup diese Botschaft in einem Interview mit dem Handelsblatt in die Öffentlichkeit katapultierte, wird landauf, landab hitzig darüber gestritten, ob es redlich ist, Beschäftigten, die sich trotz geringer Einkommen die Riester-Rente vom Munde absparen, selbige im Alter wieder wegzunehmen. Denn das ist in der Tat die Folge der derzeitigen Regelung, die den Senioren eine Rente in Höhe der Hartz-IV–Bezüge zwar ohne Anrechnung der Einkommen von Ehegatten und Kindern, aber erst nach Abzug aller eigenen Einkünfte – und damit auch der Zahlungen aus der privaten Vorsorge – garantiert. Für den, der eine gesetzliche Rente unterhalb des Grundsicherungsniveaus zu erwarten hat, ist die ganze Riesterei damit kompletter Blödsinn. Er stünde besser da, wenn er sich für die zusätzlichen Groschen ein wenig Lebensfreude gönnt, statt sie in einen Vorsorgevertrag zu stecken, aus dem er nie einen Cent zusätzlicher Rente her­ausbekommen wird.

Daß eine solche kalte Enteignung nicht angeht, finden plötzlich viele. Auch das Handelsblatt, ein alter Verbündeter Rürups im Kampf gegen die gesetzliche Rente, gibt sich nachdenklich: »Die Probleme, die Rürup beschreibt, kann niemand leugnen.« Selbst der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), bisher nicht eben durch Sorge um das gesetzliche Rentenniveau aufgefallen, stärkt dem Wirtschaftsprofessor den Rücken. GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Freiherr Frank von Fürstenwerth fordert »schnelle politische Maßnahmen (...), um sicherzustellen, daß sich Eigenvorsorge immer lohnt«.

Spätestens hier sollte man die Nachtigall nicht nur trapsen, sondern trampeln hören. Was die Versicherungswirtschaft und ihren eifrigen Lobbyisten Rürup tatsächlich umtreibt, ist mitnichten das Mitgefühl mit Millionen künftigen Rentnern, die sich trotz jahrzehntelanger Rentenbeiträge und zusätzlicher privater Vorsorge auf einen Ruhestand in beengender Armut einstellen müssen. Was die Rürups & Co. beunruhigt, ist der Umstand, daß es immer mehr Menschen auffallen könnte, daß sich die Spar-Quälerei für die Riester-Rente für sie nicht lohnt und es daher besser ist, sich für das bißchen Geld ein paar Annehmlichkeiten zu leisten, statt die Sozialbudgets der Zukunft zu entlasten und die Versicherungswirtschaft mit Gebühren zu füttern.

Denn wenn die Riester-Rente sich auch für viele Betroffene nicht auszahlen mag, für die Versicherer lohnt sie sich immer. Knapp zehn Millionen Menschen haben derzeit einen Riester- bzw. Rürup-Vertrag. In Zukunft sollen es noch weit mehr werden. Zwar lautet die Mehrzahl dieser Verträge auf eher bescheidene Summen, aber die Masse macht's. Sie beschert den Versicherern risikolose Gebühreneinnahmen und bringt zugleich immer neues Spielgeld in ihre Kassen. Gerade in Zeiten von Finanzmarktturbulenzen und Liquiditätsengpässen ist beides nicht zu unterschätzen. Es geht also – wie immer, wenn mit harten Bandagen um ein Thema gekämpft wird – ums Geschäft. Auch Walter Riester selbst hat sich inzwischen in die Debatte eingeschaltet. Es sei »schlicht eine Katastrophe«, hatte der frühere SPD-Minister für Arbeit und Sozialordnung in Reaktion auf kritische Pressebeiträge vernehmen lassen. Was? Daß immer mehr Leute im Alter bettelarm sein werden? Nein, daß »man den Leuten einredet, es lohne sich, auf eine private Altersvorsorge zu verzichten«. Daß solche Entmutigung einer Katastrophe gleichkommt, meint auch der Freiherr von Fürstenwerth, stellvertretend für alle Versicherungshaie im Land. Und deshalb fordert Rürup, den Riester-Reiz durch eine garantierte Mindestrente für alle aufrechtzuerhalten.

Anfang mit schmierigem Kompromiß

Solange nur über die Anrechnung oder Nichtanrechnung der privaten Rentenvorsorge diskutiert wird, bleibt ohnehin der eigentliche Skandal des heutigen Rentensystems außerhalb des Blickfeldes. Denn noch weit skandalöser als die künftige Enteignung vieler Riester-Rentner ist doch der Umstand, daß sich dieses Problem überhaupt in dieser Größenordnung stellt. Wer vor zehn Jahren gefordert hätte, daß Menschen, die 35 Jahre in die Rentenkassen einzahlen, »eine Rente geringfügig über dem Niveau« der Sozialhilfe erhalten, der wäre mitnichten als Vorkämpfer gegen Rentenarmut gelobt, sondern als gewissenloser Sozialbarbar verschrien worden. Daß jemand mit 35 Jahren beitragspflichtiger Beschäftigung eine Rente oberhalb des kläglichsten Armutsniveaus erwarten konnte, war damals zumindest für Menschen mit mittlerem Einkommen eine Selbstverständlichkeit. Daß das heute nicht mehr gilt, zeigt vor allem eins: die vollständige Zerstörung der gesetzlichen Rente innerhalb von nur einem Jahrzehnt.

Angefangen hatte alles, wie politische Sauereien meistens anfangen: mit einem schmierigen Kompromiß. Mit dem Versprechen, das gesetzliche Rentenniveau des »Standardrentners« von einst 70 Prozent auf nicht weniger als 67 Prozent des Nettolohns abzusenken, hatte der damalige SPD-Arbeitsminister Riester den Gewerkschaften die Zustimmung zum Einstieg in die staatlich geförderte private Altersvorsorge als »zweiter Säule« des Rentensystems abverhandelt. Es tut wenig zur Sache, daß es den Standardrentner mit 45 Beitragsjahren schon damals kaum noch gab und auch die 67 Prozent verlogen waren, weil sie auf einer Reihe von Rechentricks beruhten. Selbst wenn beides gestimmt hätte: Das Entscheidende an dieser ersten SPD-Grünen-Rentenreform waren nicht die genauen Zahlen, sondern der eingeleitete Systemwechsel: weg von einer paritätisch von Beschäftigten und Unternehmen finanzierten Umlagerente, hin zu privater Vorsorge über den Kapitalmarkt.

Anders als mancher führende Gewerkschafter hatte die herrschende Klasse diese Grundfrage begriffen und feierte Riesters Renten-Untat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit den Worten: »Es geht nicht um den Prozentwert eines aus dem fernen Dunst des Jahres 2030 herausscheinenden Rentenniveaus, es geht um einen tiefen Schnitt in das gewohnte Paradigma der Sozialpolitik«.

Mit diesem Schnitt waren die Dämme gebrochen. In der Folgezeit jagte eine Rentenreform die nächste. Mehrfach wurde die Bezugsgröße der Rente geändert, indem aus den Löhnen immer größere Beträge herausgerechnet wurden, um selbst im Falle steigender Beschäftigteneinkommen die Renten kleinzuhalten. Ein demographischer Faktor wurde eingeführt und etwas später durch den sogenannten Nachhaltigkeitsfaktor ersetzt. Beide hatten ausschließlich den Zweck, die Entwicklung der gesetzlichen Rente noch weiter von der Lohn­entwicklung abzukoppeln. Die Rentenbeiträge für Arbeitslose wurden kleingeschrumpft. Im Ergebnis erwirbt heute ein Hartz-IV-Empfänger einen Rentenanspruch von lächerlichen 2,19 Euro pro Jahr. Darüber hinaus wurde den Rentnern eine Erhöhung des Beitrags zur Pflegeversicherung aufgebrummt. Auch die künftige Besteuerung der Renten ist beschlossene Sache. Die vorerst letzte große Missetat im Rententrauerspiel war die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre. Damit schwindet der gesetzliche Rentenanspruch pro Beitragsjahr weiter. Wer arbeitslos ist, soll in Zukunft mit 63 Jahren zwangsverrentet werden. Mit saftigen Abschlägen, versteht sich.

Durch all diese Maßnahmen wurde einerseits der Lebensstandard der bisherigen Rentner abgesenkt. Noch stärker aber spüren diejenigen die Folgen, die heute in Rente gehen. Nach Berechnungen der Deutschen Rentenversicherung erhielt ein gesetzlich Versicherter, dessen Ruhestand 2007 begonnen hat, bis zu 14,5 Prozent weniger Rente als einer, der unter gleichen Voraussetzungen im Jahr 2000 das Rentenalter erreicht hatte. Und das, obwohl sehr viele Reformen noch gar nicht voll in Kraft getreten sind. Erst die Generation der 1964 Geborenen etwa wird die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre in ganzer Brutalität zu spüren bekommen.

Versorgung auf unterstem Niveau

Das all die genannten Maßnahmen das Niveau der gesetzlichen Rente drastisch verringern, sollte nicht nur niemanden überraschen; es war der erklärte Sinn der Übung. Schon im März 2006 hatte die Bundesregierung in ihrem Rentenversicherungsbericht ausgerechnet, daß das Rentenniveau des »Standardrentners« im Jahr 2009 auf 49,9 Prozent des Nettolohns absinken würde. Bis 2019 ginge die Talfahrt dann auf 46,3 Prozent und bis 2030 auf 43 Prozent. Der nächste Rentenklau, die Rente mit 67, war in voller Kenntnis dieser Zahlen beschlossen worden.

Heute haben wir die Situation, daß ein Durchschnittsverdiener mit einem monatlichen Bruttogehalt von 2500 Euro mehr als 30 Jahre lang Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung berappen muß, um am Ende einen Rentenanspruch in Höhe der Hartz-IV-Leistungen zu erreichen. Wer nur 2000 Euro Bruttoeinkommen hat, braucht mehr als 38 Beitragsjahre. Niedrigverdiener können bis zum Umfallen einzahlen und kommen doch nie auf eine Rente oberhalb des Armutsniveaus.

Da deutlich mehr als 30 Beitragsjahre mit Verdiensten in Höhe von mindestens dem Durchschnittseinkommen nur einer Minderheit von Beschäftigten vergönnt sein dürften, bedeuten diese Zahlen klipp und klar: Die gesetzliche Umlagerente im Sinne einer auch nur annähernd vor Altersarmut schützenden Institution ist tot. Alles, was der Staat noch bietet, ist eine Minimalversorgung auf unterstem Niveau. Wer seinen Ruhestand einigermaßen menschenwürdig genießen möchte, muß massiv privat vorsorgen – wenn er es kann. Rürups Vorschlag, die private Vorsorge nicht mehr auf die Grundsicherung anzurechnen, liegt ganz in der Logik dieses Systemwechsels. Seine Realisierung würde letzteren nicht aufhalten, sondern vollenden.

Das europäische Land, in dem ein solches privatisiertes Rentensystem bei staatlicher Minimalversorgung in reinster Form existiert, ist Großbritannien. Es ist kein Zufall, daß es ebenfalls die Briten sind, die in punkto Altersarmut im europäischen Vergleich mit den erschreckendsten Zahlen aufwarten. Sehr wahrscheinlich ist allerdings, daß sie in Bälde Konkurrenz bekommen.

Bereits Mitte 2007 hatte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) übrigens öffentlich moniert, daß das deutsche Rentensystem nicht ausreichend gegen drohende Altersarmut gewappnet ist. Bei den Renten für Geringverdiener schneide die Bundesrepublik sogar mit am schlechtesten ab. Die OECD schätzt, daß der Anteil der Minimalrentner, der gegenwärtig bei nur 2.5 Prozent liegt, in Zukunft auf mindestens zehn Prozent ansteigen werde. Der Sozialverband Deutschland erwartet sogar, daß sich über ein Drittel aller heute Beschäftigten auf eine Rente unterhalb des Hartz-IV-Niveaus einstellen muß.

Diese politisch betriebene Seniorenverarmung wird gern und oft mit Verweis auf die »demographische Entwicklung« gerechtfertigt. Weil immer weniger Junge immer mehr Ältere zu ernähren hätten, sei das Umlagesystem nicht mehr zeitgemäß, so die bekannte Leier. Zu den gern zitierten Zahlen in diesem Kontext gehört folgende: Während im Jahr 2000 jeder Erwerbstätige genau 1,1 Nichterwerbstätige miternährt hat, werden es 2050 1,6 Nichterwerbstätige sein. Suggeriert werden soll mit solchen Zahlen: Jeder Arbeitende hat in Zukunft immer mehr Münder zu stopfen und sollte sich daher nicht wundern, wenn weniger für ihn und für diese übrigbleibt. Was dabei gern verschwiegen wird, ist freilich, daß die Abhängigenquote noch im Jahre 1975 wegen der größeren Kinderzahl weit höher war als heute und die damalige Relation frühestens im Jahr 2022 übetroffen wird. Um diesen Vergleich gar nicht erst aufkommen zu lassen, wird oft ausschließlich auf die Relation Rentner zu Erwerbstätigen Bezug genommen, die tatsächlich heute höher ist als in der Vergangenheit und in Zukunft weiter steigen wird.

Demographische Rentenlüge

Die Geschichte vom darbenden Bäcker, der seinen Kuchen mit immer mehr unproduktiven Essern teilen muß, ist trotzdem ein Mythos, der auf mindestens zwei völlig aberwitzigen Annahmen beruht: Erstens wird vorausgesetzt, daß der Kuchen, den jeder Backmeister zu Markte trägt, in 50 Jahren nicht größer sein wird als heute. Und zweitens wird angenommen, daß der Anteil der Bäcker an den Jahrgängen im erwerbsfähigen Alter ein für allemal konstant bleibt. Weder die eine noch die andere Annahme läßt sich vernünftig begründen.

Die statistische Größe, die den Umfang des Kuchens pro Bäcker mißt, ist die Arbeitsproduktivität. Diese Produktivität ist seit 1960 in der Bundesrepublik im Schnitt um 2,5 Prozent jährlich gewachsen. Selbst wenn wir annehmen, daß dieses Wachstum sich auf nur noch ein Prozent verlangsamt, kann bei dem derzeit absehbaren Wandel in der Altersstruktur der Bevölkerung in 50 Jahren immer noch jeder Esser – ob jung, ob alt – ein um zwölf Prozent größeres Tortenstück verdrücken. Steigt die Produktivität im Schnitt um zwei Prozent, steht jedem sogar ein Drittel mehr zur Verfügung. Und bei dieser Rechnung ist vorausgesetzt, daß die Arbeitslosigkeit so hoch bleibt, wie sie heute ist. Würde zusätzlich mehr Menschen die Möglichkeit gegeben, sich am Kuchenbacken zu beteiligen, sähen die Zahlen noch einmal besser aus. Die Behauptung, die demographische Veränderung würde eine armutssichere umlagefinanzierte Rente obsolet machen, ist also eine schlichte Lüge.

Im übrigen gibt es auch keinen Grund für die Annahme, daß in einem System, in dem jeder für sich selbst vorsorgt, am Ende mehr verteilbar sein sollte als in einem umlagefinanzierten. Wäre die demographische Rentenlüge wahr, träfe sie in gleicher Wucht die kapitalgedeckte Rente. Denn der Lebensstandard der Rentner muß unter allen Umständen aus dem laufenden Bruttosozialprodukt erwirtschaftet werden. Niemand will im Alter Zinsgutschriften essen, er will Brot, Fisch und Fleisch verspeisen, guten Wein genießen, warme Kleider tragen, feine Restaurants aufsuchen, die Welt bereisen. Werden solche Leistungen nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung gestellt, erweist sich die schönste Vorsorgepolice als inflationär entwertete Luftnummer.

Es geht also nicht um Demographie, es geht um Interessen. Die Privatisierung der Alterssicherung hat drei große Profiteure: die Bezieher höherer Einkommem zum ersten, die Unternehmen im allgemeinen zum zweiten, und die Finanzkonzerne und Versicherer im besonderen zum dritten. Das sind die drei Interessengruppen, die von einem privatisierten Rentensystem nur gewinnen können und entsprechend rege Lobbyarbeit betrieben haben und betreiben.

Liquide Mittel für Finanzmärkte

Die Besserverdienenden profitieren, weil sie die Umlagerente schlicht nicht brauchen und ihnen deren mögliche Umverteilungswirkung eher zum Nachteil gereicht. Zu den zeit- und ortsunabhängigen Konstanten menschlichen Sparverhaltens zählt, daß nicht nur der Sparbetrag, sondern auch der Anteil der Ersparnisse am Einkommen mit der sozialen Stellung eines Haushaltes wächst. Sparen ist ein Luxus, den man sich leisten können muß, und das können nur die, deren Grundbedürfnisse abgedeckt sind. Eben deshalb sparen Haushalte mit weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens in der Regel keinen Cent, sondern sind je nach Möglichkeit mehr oder minder verschuldet, während die Sparquote mit steigendem Einkommen immer mehr zunimmt. Eine staatlich geförderte private Altersvorsorge bedeutet daher in der Regel, daß Geringverdiener leer ausgehen, weil sie mangels Sparfähigkeit auch keine staatliche Förderung erhalten, während die Vielsparer in den höheren Rängen der Einkommenspyramide den größten Teil der Förderung für sich abgreifen. Ein solches System funktiert also nach dem klassischen biblischen Motiv: »Wer hat, dem wird gegeben«, und ist bei denen, die haben, folgerichtig sehr beliebt. Neben dem Höchstförderbeitrag von 154 Euro pro Jahr können bei der Riesterrente bis zu 2100 Euro jährlich zusätzlich von der Steuer abgesetzt werden, was für einen Gutverdienenden auf eine jährliche Steuer­ersparnis von etwa 1000 Euro hinausläuft. Ab 2008 werden die Steuerausfälle aus dieser Regelung auf etwa 12,8 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.

Die Unternehmen profitieren von der Zerstörung der umlagefinanzierten Rente, weil sie eben diese einst paritätisch mitfinanzieren mußten. Die private Vorsorge dagegen hat der Beschäftigte allein zu tragen. Der Zerstörungsfeldzug gegen die gesetzliche Rente wurde oft genug ausdrücklich damit begründet, daß ein weiteres Ansteigen der Rentenbeiträge verhindert werden müsse. Da es für den Beschäftigten finanziell keinen Unterschied macht, ob ein höherer Rentenbeitrag von seinem Bruttoeinkommen abgezogen wird oder selbige Summe in irgendeiner Riester-Police verschwindet, ist völlig klar: bei dem ganzen Geschrei um die Rentenbeiträge ging es immer allein um die von den Unternehmen zu zahlenden. Jeder Prozentpunkt, um den der sogenannte Arbeitgeberbeitrag gedeckelt werden kann, steht für Milliarden zusätzlicher Profite. Entsprechend engagiert hat die Wirtschaftslobby ihr Scherflein dazu beigetragen, den Mythos vom obsoleten Umlagesystem und von der Modernität privater Vorsorge in die Köpfe zu bringen.

Die dritte Lobby, die Riesters Porträt eigentlich goldgerahmt in ihre Empfangsräume hängen müßte, ist die der Finanzkonzerne. Wie bereits erwähnt, ist die Verwaltung und renditeträchtige Anlage der privatisierten Ruhestandsgelder ein Riesengeschäft. Schließlich darf nicht vergessen werden, daß der Anteil der Verwaltungsausgaben an den Einnahmen bei den privaten Fonds erheblich höher ist als im Fall der gesetzlichen Rentenversicherung. Wer privat vorsorgt, zahlt eben auch die Spitzengehälter der Fondsmanager mit. Aber es geht nicht nur darum. Den wichtigsten Punkt hat die FAZ im Oktober 2000 in ihrer Bewertung des Riester-Deals erwähnt: »Die Rentenreform ist ein positiver Liquiditätsimpuls für Aktien.« Da war gerade die Dotcom-Blase geplatzt und Liquidität konnten große Spieler im Aktiengeschäft sehr gut gebrauchen.

Das entscheidende Interesse besteht also darin, durch den weltweiten Trend zur Privatisierung der Altersvorsorge einen stetigen Zufluß an Liquidität auf die Finanzmärkte zu lenken und damit immer weiter steigende Kurse auf den eigentlich längst hoffnungslos überbewerteten globalen Vermögensmärkten abzusichern. Tatsächlich gehören die großen Pensionsfonds, insbesondere die US-amerikanischen und britischen, heute zu den wichtigsten Anlegern auf diesen Märkten, und die in ihren Kassen versammelten Gelder haben durchaus zum Aktien- und Anleiheboom der zurückliegenden zwei Jahrzehnte beigetragen. Richtig ist auch: Je mehr Länder ihre Altersvorsorge privatisieren, desto mehr Geld ist vorhanden, um die Kurse weiter in die Höhe zu treiben und den Crash hinauszuschieben. Das Problem ist nur, daß wir es hier mit einem Spiel von der Logik eines Kettenbriefs zu tun haben, wo die ersten – und das sind in diesem Fall nicht primär die Millionen kleiner Vorsorgesparer, sondern eine schmale Schicht superreicher Privatanleger, die schon immer mit Aktien und Anleihen gespielt haben – solange absahnen, solange immer neue Mitspieler hinzugewonnen werden können. Aber irgendwann ist Schluß, und dann kommt das böse Erwachen. Spätestens, wenn mehr Pensionen tatsächlich ausbezahlt werden müssen als Neuverträge hinzukommen, kann die privatisierte Altersvorsorge keine Stütze boomender Aktienmärkte mehr sein. Schlimmer noch: Wenn dann die Kurse fallen, könnten die schönen papiernen Versorgungsansprüche dahinschmelzen wie Eis in der Sommersonne.

Einen Vorgeschmack darauf gab es bereits in der Zeit nach der Jahrtausendwende, als die geplatzte Internetblase und der folgende Börsencrash eine Deckungslücke von über 300 Milliarden Dollar in den Bilanzen der US-Pensionsfonds hinterlassen hatte. Die britischen Pensionsfonds klagten über ein Pensionsdefizit in Höhe von 70 Milliarden Pfund. Noch 2003 lag der Wert aller US-Pensionsfonds weit unter dem Barwert ihrer Zahlungsverpflichtungen. Selbst das Handelsblatt stellte damals zähneknirschend fest: »Das einst hochgelobte System – die Finanzierung der Altersvorsorge über den Aktienmarkt – erweist sich als Strukturproblem.«

Auch die OECD warnte seinerzeit vor einer sich selbst verstärkenden Abwärtsspirale, indem die sich ausweitenden Fehlbeträge in den betrieblichen Pensionsfonds die Aktienbewertungen der Unternehmen noch weiter nach unten zu drücken drohten, was wiederum die Defizite der in Aktien investierten Pensionskassen zusätzlich erhöht. Generell sollten daher nach Meinung der OECD Reformen der Alterssicherung »nicht mehr unter der Annahme sicherer Mindestrenditen und nachhaltig steigender Vermögenswerte an den Kapitalmärkten vorgenommen werden«. Als die Börsen nach 2004 erneut an Fahrt gewannen, verschwanden derlei Nachdenklichkeiten wieder in den Schubladen und Aktenordnern. Sollte allerdings, was sehr wahrscheinlich ist, der derzeitige Crash sich fortsetzen, wird man das Problem irgendwann nicht mehr verdrängen können.

Privatisierung der Rente heißt also nicht nur, eine so elementare Frage wie die Altersvorsorge zum Renditeobjekt der Finanzhaie verkommen zu lassen, sondern vor allem, die Lebensqualität von Hunderten Millionen älteren Menschen von den Launen der heute höchst fragilen und schwankungsanfälligen Weltfinanzmärkte abhängig zu machen.

Sicher, auch die Umlagerente garantiert nicht automatisch einen mit dem gesellschaftlichen Reichtum steigenden Lebensstandard der Senioren. Sie bindet diesen vielmehr an die Entwicklung der Löhne, und wenn letztere in ihrer Kaufkraft sinken wie die bundesdeutschen seit über einem Jahrzehnt, dann geht es auch den Rentnern schlechter, und die umlagefinanzierten Rentenkassen werden klamm. Das sollte indessen kein Grund sein, die Zerstörung der gesetzlichen Rente hinzunehmen oder gar schönzureden, sondern es ist nur ein Argument mehr, das dafür spricht, sich gegen einen brutalisierten Kapitalismus endlich vehement zur Wehr zu setzen.

Sahra Wagenknecht ist für Die Linke im Europa­parlament