Sahra Wagenknecht

"Offene Grenzen für alle - das ist weltfremd"

Interview mit Sahra Wagenknecht, erschienen im FOCUS am 10.02.2018

14.02.2018

FOCUS: Frau Wagenknecht, angenommen, Juso-Chef Kevin Kühnert schafft es, den Koalitionsvertrag der SPD mit der Union zu kippen – bekommt er dann von Ihnen eine Einladung zu der neuen linken Sammlungsbewegung, die Ihnen vorschwebt?

Sahra Wagenknecht: Wenn er es schafft, eine neue Große Koalition zu verhindern, dann würde das zeigen, dass noch Leben in der SPD ist. Ich drück ihm die Daumen. Ich habe der SPD nie den Untergang gewünscht.

Aber für die große linke Sammlungsbewegung, für die Sie werben, müssten Sie doch genau das hoffen. Wie soll die Bewegung entstehen, wenn nicht aus den Bruchstücken von niedergehenden Parteien im linken Lager?

Die SPD arbeitet seit Jahren an ihrem Niedergang. Wer ständig Politik gegen seine Wähler macht, muss sich nicht wundern, dass sie ihm abhandenkommen. Als Martin Schulz nach der Wahl eine Erneuerung ankündigte, hatte ich eine vage Hoffnung, dass die SPD ihren Kurs korrigiert. Aber das hat sich ja auch zerschlagen. Wenn die SPD jetzt wirklich noch mal in eine GroKo geht, ist sie nicht mehr zu retten. Aber sie hinterlässt eine große politische Leerstelle - und ich möchte nicht, dass die von rechts gefüllt wird.  Deshalb der Vorschlag einer neuen Sammlungsbewegung. Wir brauchen politische Mehrheiten, die den Zerfall des sozialen Zusammenhalts stoppen. Die Partei Die Linke allein schafft das nicht.

Die Idee liegt ja in der Luft: In vielen Ländern lösen Bewegungen die traditionellen Parteien ab: ob der Grieche Alexis Tsipras mit seiner Allianz aller möglichen Linken, ob Emmanuel Macron in Frankreich mit „En Marche!“ oder Sebastian Kurz mit seiner „Liste Sebastian Kurz“. Wann kommt eine solche Bewegung in Deutschland?

Die Bedingungen sind unterschiedlich, das Wahlrecht auch. Aber trotzdem brauchen wir auch in Deutschland eine Sammlung all der Kräfte, die Politik für die Mehrheit, für die Arbeitnehmer, für die Rentner, für kleine Selbständige machen wollen. In den letzten Jahrzehnten wurde vor allem Politik für Großunternehmen, Banken und sehr Wohlhabende gemacht. In der Bevölkerung gibt es Mehrheiten für eine Vermögenssteuer für Multimillionäre, für einen höheren Mindestlohn, für einen Staat, der seine Bürger nicht dem globalisierten Finanzkapitalismus  ausliefert, sondern sie vor Dumpingkonkurrenz schützt. Aber diese Mehrheiten bilden sich politisch nicht ab, weil derzeit allein die Partei Die Linke solche Positionen vertritt.

Wo immer die neuen politischen Sammlungen erfolgt haben, steht eine möglichst charismatische Person an der Spitze. Anführerin einer solchen Sammlungsbewegung: das klingt doch wie eine perfekte Jobbeschreibung für Sie, oder?

Wenn eine solche Sammlungsbewegung Erfolg haben will, braucht sie mehr als prominente Köpfe. Sie braucht vor allem eine breite gesellschaftliche Basis, die sie stützt. 

Nehmen wir einmal an, die große Koalition kommt doch, und enttäuschte Sozialdemokraten pilgern zu Ihnen und sagen: Sahra, bitte bau eine neue linke Kraft auf. Was würden Sie antworten?

Ich wünsche mir, dass linke Sozialdemokraten dann sagen: Lasst uns zusammen eine starke linke Kraft aufbauen.

FOCUS hatte gerade Wähler befragt und wollte wissen: Welcher Parteien trauen Sie zu, die aktuellen Probleme des Landes zu lösen? Keine Partei kam auf mehr als 50 Prozent – auch Ihre nicht.  Ist das nicht eine Krise des gesamten Parteiensystems? 

Ja. Die Menschen haben zu Recht das Gefühl: sie können wählen, was sie wollen – die Politik bleibt immer die gleiche. Von Rot-Grün über die diversen Koalitionen unter Angela Merkel hat sich ja nichts wirklich geändert. Die soziale Spaltung ist größer geworden, viele haben heute Jobs, von denen sie nicht leben können, es gibt eine große Lebensunsicherheit und die Zustände in öffentlichen Einrichtungen, von Schulen bis zu Krankenhäusern, sind eines reichen Landes unwürdig. Die Vermögenden sind heute sehr viel reicher als vor 20 Jahren, aber die mittleren Löhne sind kaum gestiegen und die Renten gesunken.

Nun kommt auch aus den eigenen Reihen heftige Kritik an Ihrer Idee einer neuen linken Bewegung. Etliche Genossen – beispielsweise Gregor Gysi – finden: Das gefährdet den Bestand der Linkspartei.

Ich bin froh, dass es links von der SPD eine Partei gibt, die stabil etwa zehn Prozent der Menschen erreicht. Das will ich nicht gefährden, aber damit kann man doch auch nicht zufrieden sein. Wie soll es denn weitergehen: jahrelang große Koalitionen? Irgendwann die AfD an der Regierung, wie in Österreich die FPÖ? Wir würden dann vielleicht auch jedes Mal bei Wahlen ein, zwei Prozent zulegen. Aber das kann‘s doch nicht gewesen sein. Es gibt in unserem Land nicht wenige Menschen, die sich von der Demokratie völlig abgewandt haben. In armen Wohnvierteln liegt die Wahlbeteiligung teilweise bei 30 Prozent. Und nicht wenige wählen aus Wut rechts, weil sie das Gefühl haben, dass sie von der Politik völlig vergessen wurden. Da kommt doch irgendwann eine Bruchstelle, niemand sollte denken, dass das einfach so weitergeht.

Apropos Bruchstelle: Für viele Lohnempfänger und Leute in prekären Verhältnisse bildet die Migrationsfrage die entscheidende Trennlinie zu den Linken. Sie sind fast alle gegen unbegrenzte Masseneinwanderung. Die meisten Linken verfechten eisern offene Grenzen.

„Offene Grenzen für alle“ ist weltfremd. Und wenn das Kernanliegen linker Politik ist, die Benachteiligten zu vertreten, dann ist die no-border-Position auch das Gegenteil von links. Alle Erfolge bei der Bändigung und Regulierung des Kapitalismus wurde innerhalb einzelner Staaten erkämpft, und Staaten haben Grenzen. Der BDI trommelt nicht ohne Grund seit Jahren für ein Einwanderungsgesetz.  Arbeitsmigration bedeutet zunehmende Konkurrenz um Jobs, gerade im Niedriglohnsektor. Dass Betroffene davor Angst haben, ist verständlich. Es gibt auch nicht unbegrenzt Wohnungen, schon gar nicht bezahlbare. Menschen, die verfolgt werden, brauchen Schutz. Dafür ist das Asylrecht da, und das darf nicht ausgehöhlt werden. Aber wer den Fachkräftemangel überwinden will, sollte lieber mehr Geld in unser Bildungssystem investieren.

Fast alle Linken - Grüne, SPD, Linkspartei -sehen Einwanderung als ihr Kernthema. Das fängt schon damit an, dass sie jeden als Flüchtling bezeichnen, der über die Grenze kommt – ganz gleich, welche Motive er hat.

Linke Politik ist es, die Gründe für Flucht und Migration zu beseitigen. Ich weiß, dass Angela Merkel in Sonntagsreden auch gern davon spricht, Fluchtursachen zu bekämpfen. Sie tut aber das Gegenteil. Schauen Sie sich die so genannten Partnerschaftsabkommen mit afrikanischen Ländern an, die diese Länder zwingen, ihre Zölle für Importe zu senken. Das zerstört ihre lokale Wirtschaft, denn kein afrikanischer Bauer kann mit Hähnchenflügeln oder Tomatenkonserven aus Europa konkurrieren.  Dann machen die Menschen sich auf, weil sie zu Hause keine Jobs mehr finden. Oder nehmen wir den endlosen Streit um den Familiennachzug: das Thema wäre erledigt, wenn der Krieg in Syrien beendet wäre. Aber jetzt marschiert unser NATO-Partner Türkei mit deutschen Panzern dort ein, und die Lage eskaliert wieder. Auch andere Kriege werden mit deutschen Waffen munitioniert. Das ist schäbig.

Die Integration vieler Einwanderer aus arabischen und afrikanischen Ländern in Deutschland funktioniert schlecht. Ist das nicht auch eine kulturelle Frage?

Integration scheitert, wenn Parallelwelten entstehen und sich die hier geborenen Kinder und Enkel immer noch nicht als Staatsbürger unseres Landes fühlen. Dafür gibt es auch soziale Gründe. Die Privatisierung des Wohnungsmarktes führt dazu, dass die Ärmeren in abgehängte Viertel verdrängt werden. Weil viele Einwandererfamilien arm sind, sind sie dort oft in der Überzahl. Seit Einführung von Hartz IV ist die Armutsquote von Kindern aus Einwandererfamilien auf knapp 50 Prozent gestiegen. Wer arm aufwächst, fühlt sich ausgeschlossen. Das fördert die Hinwendung zu einem radikalisierten Islam, die durch soziale Netzwerke im Umfeld bestimmter Moscheen verstärkt wird.

Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel warf seiner Namensvetterin kürzlich in der FAZ vor, den Falschen zu helfen: Mit den Milliarden, die Deutschland hier für Asylbewerber und Flüchtlinge aufwendet, könnten wir einer ungleich höheren Zahl von Bedürftigen an Ort und Stelle helfen. Hat er Recht?

Ja. Frau Merkels Entscheidung 2015 hatte vor allem jungen Männern den Weg nach Deutschland geöffnet. Echte Hilfe würde sich stattdessen vor allem um Frauen, Kinder, Alte, Schwache und die Ärmsten kümmern. Aber die können keine Schlepper bezahlen und keine lange Flucht überstehen. Sie leben vor Ort oft unter grauenhaften Bedingungen, - und sie werden seit Jahren alleingelassen.

Die gesamte Flüchtlingspolitik Deutschlands und anderer westlicher Länder funktioniert allerdings völlig anders.

90 Prozent aller Flüchtlinge weltweit leben in den Nachbarländern ihrer Heimat. Um sie kümmert sich außer dem chronisch unterfinanzierten UN-Flüchtlingshilfswerk praktisch niemand. Linke Politik ist immer Politik für die Mehrheit, sie sollte sich also vor allem um diese 90 Prozent kümmern. Diesen Menschen kann nur vor Ort geholfen werden. Migration macht die armen Länder übrigens noch ärmer, denn laut Migrationsforschung ist es überall die besser ausgebildete Mittelschicht, die abwandert. Das darf man nicht begünstigen, sondern muss sich bemühen, Lebenschancen vor Ort zu schaffen.

Viele jüngere Linke – ich könnte auch sagen: regressive Linke – scheinen sich dafür aber nicht zu interessieren. Sondern eher für die Frage, ob es rassistisch ist, wenn Weiße Rastalocken tragen. Oder für angeblich sexistische Gedichte. Von der Fassade einesr Berliner Hochschule müssen deshalb harmlose Verse von Eugen Gomringer getilgt werden. Das ist sicher nicht das Thema einer Aldi-Kassiererin.

Da haben Sie Recht. Das sind auch nicht Kernanliegen meiner Partei.

Aber ein Phänomen der Linken insgesamt. Dort zerreißen sich viele, wenn es um 60 verschiedene Geschlechter und den Kampf gegen alte weiße Männer geht. Ökonomie kommt kaum noch vor.

Der Kampf um Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung ist links. Aber den kann man nicht führen, wenn man die wichtigste Form der Diskriminierung, die ökonomische Diskriminierung, ausblendet. Ein Feminismus, der für Frauenquoten in Aufsichtsräten kämpft, aber gegen die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 nichts einzuwenden hat, obwohl dadurch Millionen Frauen in Niedriglohnjobs und schlecht bezahlte Teilzeit abgedrängt wurden, ist hohl und heuchlerisch.

Was ist für Sie links?

Der Einsatz für die, denen kein großes Vermögen in die Wiege gelegt wurde, und die in der heutigen Wirtschaftsordnung von vornherein benachteiligt sind. Ich will, dass jedes Kind die gleichen Chancen hat.

Chancen worauf?

Chancen auf sozialen Aufstieg. Jeder, der sich anstrengt, muss auch zu Wohlstand kommen. Und er muss abgesichert bleiben, wenn er krank wird oder das Rentenalter erreicht.

Das sagt die FDP nicht anders.

Wenn die FDP Steuersenkungen durchgesetzt hat, dann nicht für die arbeitende Mitte, sondern für die sehr Reichen. Und sie hatte nie etwas einzuwenden gegen soziale Kürzungen, Leiharbeit und Tarifflucht, die das Leistungsprinzip untergraben.

Und was ist für Sie rechts?

Rechts ist für mich etwas anderes als konservativ. Rechts ist die Ablehnung liberaler Freiheiten, die Rechtfertigung auch extremer sozialer Ungleichheit und die Herabsetzung, ja Verachtung anderer Kulturen bis hin zu rassistsischen Ressentiments. 

Noch einmal zurück zum linken Lager. Der amerikanische Politologe Mark Lilla unterscheidet in seinem heftig diskutierten Buch „Identity Politics“ zwischen traditionellen und neuen Linken. Die Traditionellen, sagt er, seien persuasiv: Sie verfolgten Ziele außerhalb ihrer selbst. Die Neuen nennt er expressiv – Leute, die eigentlich nur noch über sich selbst reden wollen. Was meinen Sie dazu?

Selbstverwirklichungszirkel haben sicher für die Beteiligten psychologischen Nutzen, aber linke Politik wendet sich den Mitmenschen zu. Die klassische Linke ist im 19. Jahrhundert als Vertreterin der Arbeiter entstanden. Sie hat im 20. Jahrhundert wesentlich zur Entstehung des Sozialstaates und zur Begrenzung von Ausbeutung beigetragen.

Und das sehen Sie heute immer noch als Ziel linker Politik, wie Sie sie verstehen?

Mehr soziale Sicherheit, Wohlstand für alle statt Reichtum für wenige, das ist für mich das Ziel linker Politik. Die ehemaligen Arbeiterparteien haben in vielen Ländern die Seite gewechselt und so den Begriff „links“ entleert. „In den Jahren, in denen die alte Industrie auf den Hund kam, debattierte man in der Öffentlichkeit der USA vor allem über ‚Diversität‘, ‚Gleichberechtigung‘ und den ‚Kampf gegen Diskriminierungen‘.“, kritisiert die amerikanische Philosophin Nancy Fraser.

Das schreibt so ähnlich auch Donna Brazile, ehemals Chefin der US-Demokraten,  in ihrem Buch „Hacks“: Hillary Clinton habe fest daran geglaubt, dass die Arbeiter sie sowieso wählen – und hat sich ganz darauf konzentriert, um alle möglichen Minderheiten zu werben.

Clinton war für viele die Inkarnation von Korruption und sozialer Ignoranz.  Mit Bernie Sanders hätten die Demokraten Donald Trump wahrscheinlich verhindert.

Warum glauben Sie das?

Hillary Clinton war durch ihre Nähe zur Wall Street völlig unglaubwürdig. Sanders kam bei Studenten genauso gut an wie bei Arbeitern.

Noch eine ganz andere Frage: Nach unserem Gespräch gehen Sie zur Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Reichstag. Sie hatten 2010 für Schlagzeilen gesorgt, als Sie es bei der damaligen Gedenkveranstaltung ablehnten, sich für den israelischen Präsidenten Schimon Peres zu erheben. Angenommen, ein israelischer Politiker würde heute wieder reden – würden Sie wieder sitzen bleiben?

Ich hatte mich auch damals vor Peres erhoben, wie es dem Anlass angemessen war. Vor seiner Rede. Ich habe mich nicht an den Standing Ovations danach beteiligt, weil er in seiner Rede die israelische Nahostpolitik gerechtfertigt hat, die ich für falsch halte.