„Die Menschen wollen anständige Löhne, ordentliche Renten, angemessene Steuern für Konzerne“
Interview mit Sahra Wagenknecht, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 12.08.2018
Sahra Wagenknecht über ihre neue linke Sammlungsbewegung und wie sie die Arbeiter von der AfD zurückgewinnen will.
Frau Wagenknecht, Anfang September wollen Sie eine neue linke Bewegung namens "Aufstehen" gründen. Was ist das Ziel?
Die Menschen wollen anständige Löhne, ordentliche Renten, angemessene Steuern für Konzerne. Für all das gibt es in der Bevölkerung eine Mehrheit, im Bundestag nicht.
Wie wollen Sie das ändern, wenn Sie das politische Spektrum noch weiter zersplittern?
Wir haben bewusst keine neue Partei gegründet. Es geht um gesellschaftlichen Druck auf die Parteien. Niemand muss sich zwischen einer Mitgliedschaft bei uns und in einer Partei entscheiden. Vor allem aber möchten wir die vielen wieder zu einem Engagement motivieren, die sich von der Demokratie abgewandt haben. Es geht darum, die Politik der Parteien zu verändern und so wieder andere Mehrheiten und eine neue Regierung zu erreichen.
Auch Ihre eigene Partei, die Linke, genügt Ihren Ansprüchen nicht?
Die Linke hat die Politik der sozialen Spaltung nie unterstützt. Aber auch ihr ist es nicht gelungen, die Menschen zu erreichen, die sich von der SPD abgewandt haben. Viele Arbeiter, Arbeitslose, Menschen mit Niedriglohn fühlen sich offenbar auch bei uns mit ihren Problemen und Ängsten nicht mehr verstanden.
Einer Ihrer Mitstreiter spricht von "dekadenter Political Correctness". Machen Sie sich die Sprache der AfD zu eigen, um abgewanderte Wähler zurückzugewinnen?
Neuerdings ist offenbar alles "Sprache der AfD". Niemand von uns bedient Ressentiments. Es geht darum, dass Politiker heute oft eine Sprache sprechen, die normale Menschen als abgehoben und unverständlich empfinden. Statt über Sternchen in Worten zu debattieren, sollten wir uns auf die sozialen und ökonomischen Fragen konzentrieren. Wir wollen uns nicht damit abfinden, dass Unzufriedene in die Arme der AfD getrieben werden, weil sie sich bei allen anderen nicht mehr verstanden fühlen. Viele wählen die AfD aus Protest, das sind keine Rassisten, sondern Menschen, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen.
Sie verabschieden sich vom traditionellen Internationalismus der Linken?
Im Gegenteil. Internationalismus heißt, sich für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung einzusetzen. Diejenigen, die Rohstoffe armer Länder ausplündern, Waffen in Kriegsgebiete liefern und unfaire Handelsabkommen diktieren, handeln nationalistisch. Das lehnen wir ab. Internationalismus heißt nicht: Abwerbung der Mittelschicht aus armen Ländern, um hier Lohndumping zu betreiben. In einer grenzenlosen Welt regieren die Multis. Sozialer Ausgleich und Demokratie funktionieren aktuell nur innerhalb einzelner Staaten, auf globaler Ebene gibt es gar keine Hebel dafür. Natürlich müssen die Staaten ihre Bürger vor Dumpingkonkurrenz schützen.
Sie wollen es machen wie Donald Trump?
Ich rede nicht von steigenden Zöllen zwischen entwickelten Industrieländern, das würde am Ende alle schädigen. Aber unsere Schlüsselbranchen dürfen nicht von internationalen Hedgefonds, denen es nur um schnelle Rendite geht, zerstört werden, wie gerade bei Thyssen-Krupp.
Wie populistisch ist Ihre Bewegung?
Populismus steht für Plattitüden und verlogene Politik. Damit hat "Aufstehen" nichts zu tun. Aber populär wollen wir sein. Eigentlich sollten in einer Demokratie alle Parteien danach streben, nah am Volk zu sein und über die Fragen zu reden, die Menschen bewegen. Miese Löhne etwa, Kinderarmut, schlechte Pflege, wachsende Ungleichheit.
Derzeit werden überall Arbeitskräfte gesucht, die Löhne steigen. Warum beklagen Sie ausgerechnet jetzt das soziale Elend?
Deutschland ist kein armes Land, das stimmt. Aber umso empörender ist es, wie viele Menschen für Löhne arbeiten müssen, von denen sie nicht anständig leben oder eine Familie ernähren können. Die Mieten steigen vielfach schneller als die Löhne. Es gibt immer mehr Solo-Selbständige ohne jede Absicherung. Es sollte doch zu denken geben, dass nur noch ein Drittel der Bevölkerung die angeblich große Koalition gewählt hat.
Sie zählen die Nichtwähler mit. Aber wer nicht zur Wahl geht, kann sich doch hinterher nicht beschweren?
Eine Demokratie, in der man den Wohlstand eines Stadtviertels an der Wahlbeteiligung ablesen kann, funktioniert nicht. Einst waren Wahlen eine Auseinandersetzung über die großen Linien der Politik. Heute sind SPD und CDU kaum noch unterscheidbar, ebenso wie Grüne und FDP.
Ihre politischen Freunde sprechen von einer "schwarz-rot-grünen Einheitsfront". Was unterscheidet diesen Sprachgebrauch noch von der AfD, die gegen die "Systemparteien" wettert?
Die Profillosigkeit dieser Parteien kann doch niemand leugnen. Vergleichen Sie den aktuellen Koalitionsvertrag mit den Sondierungspapieren von Jamaika. Die Unterschiede sind marginal.
Sie wollen die Wähler zurückholen, die von der Linken zur AfD abgewandert sind - indem Sie die eigene Partei nach rechts verschieben?
Nein. Im Gegensatz zur AfD sind für uns die sozialen Fragen entscheidend.
Die AfD arbeitet doch gerade an ihrem sozial-nationalen Profil, ähnlich wie Sie?
Die AfD lehnt Erbschaft- und Vermögensteuern ab, viele fordern einen weiteren Abbau des Sozialstaates, ihr wichtigstes Thema ist Stimmungsmache gegen Flüchtlinge. Dass Herr Höcke seinen Rassismus neuerdings mit einem sozialen Mäntelchen kaschiert, hat mit unseren Positionen nichts zu tun.
Sie bekämpfen Nationalismus mit Nationalismus?
Nationalismus bedeutet, andere Kulturen abzuwerten, sich über andere zu erheben. Niemand bei uns vertritt so etwas. Reden muss man über Probleme, die bei hoher Zuwanderung und mangelnder Integration entstehen. Nicht bei den Wohlhabenden, die in einer eigenen geschützten Welt leben, aber sehr wohl in den sozialen Brennpunkten, wo die Ärmeren leben. Natürlich gibt es heute noch mehr Konkurrenz um Wohnungen und Jobs. Studien belegen: Ohne Zuwanderung hätte der lange Aufschwung in Deutschland zu einem viel stärkeren Lohnwachstum in den unteren Lohnsegmenten geführt.
Das heißt: Die Grenzen wieder dicht machen, auch innerhalb Europas?
Nein, Regeln zum Schutz der Arbeitnehmer schaffen. Früher war die Freizügigkeit in der EU kein Problem, weil die Lohnniveaus sich nur wenig unterschieden. Mit der Ost-Erweiterung wurde die Arbeitnehmerfreizügigkeit in ein Instrument der Lohndrückerei verwandelt. Die EU-Entsenderichtlinie hat dabei geholfen. Die globale Migration verschärft diese Probleme zusätzlich.
Das Einwanderungsgesetz für Arbeitskräfte, das die große Koalition beschließen will, lehnen Sie ab?
Noch gibt es keinen Text. Aber wenn es darauf hinausläuft, in Deutschland junge Menschen mit hartem Numerus Clausus vom Medizin- oder auch Ingenieurstudium abzuhalten und sich dann die qualifizierten Fachkräfte aus armen Ländern zu holen, dann ist das zynisch. Deutschland muss seine Fachkräfte selbst ausbilden.
Im Moment fehlt es auf allen Ebenen an Arbeitskräften, auch in geringer qualifizierten Berufen.
Hauptgrund des Fachkräftemangels ist unser unterfinanziertes Bildungssystem. Wir geben pro Jahr 30 Milliarden Euro weniger für Bildung aus als der Durchschnitt der OECD. Jedes Jahr verlassen Tausende die Schule, ohne richtig lesen und schreiben zu können. Statt Fachkräfte aus armen Ländern abzuwerben, sollten wir lieber die Bildungsausgaben erhöhen.
Auch Ihre Gegnerschaft zur EU eint Sie mit den Populisten.
Ich bin für ein geeintes Europa souveräner sozialer Demokratien. Die heutige EU befördert Nationalismus und Europafeindlichkeit, weil die Menschen sich entmündigt fühlen. Die EU-Kommission agiert im demokratiefreien Raum. Und Franzosen oder Italiener möchten weder aus Brüssel noch aus Berlin regiert werden.
Die Demokratisierung Europas ist für Sie kein Ziel?
Wie kommen Sie darauf? Aber derzeit fehlen alle Voraussetzungen. Wir haben keine echten europäischen Parteien, wir haben keine europäische Öffentlichkeit. Das EU-Parlament hat nur begrenzte Rechte, und die Einflussnahme großer Konzerne ist in Brüssel noch viel ungenierter.
Auch die Westbindung, eine Konstante der deutschen Außenpolitik, lehnen Sie ab.
Es sind doch die Vereinigten Staaten, die das Bündnis in Frage stellen. Sie verfolgen seit Jahren ihre eigenen Interessen, seit Trump in aggressiver Weise. Diese Interessen widersprechen denen Europas in elementaren Fragen. Nicht nur wirtschaftlich. Die Vereinigten Staaten haben mit ihren Rohstoffkriegen den Nahen Osten destabilisiert und setzen das jetzt in Iran fort. Die Konsequenzen treffen vor allem Europa. Wir sollten uns nicht einer Politik unterordnen, die unseren Interessen widerspricht.
Was liegt denn im Interesse Europas?
Ein stabiler Naher Osten. Und eine gute Zusammenarbeit mit Russland. Die Vereinigten Staaten hatten immer Angst davor, dass russische Rohstoffe und deutsche Technologie zusammenkommen, aus gutem Grund.
Haben Sie sich deshalb zur Vorbereitung des Linksbündnisses im teuren Berliner Restaurant Paris-Moskau getroffen?
Diese Frage ist nun wirklich unterhalb Ihres Niveaus. Im Übrigen sollte es in einem Land wie Deutschland für jede Familie möglich sein, mindestens einmal im Monat in einem anständigen Restaurant essen zu gehen.
Das Gespräch führte Ralph Bollmann.