"So wie bisher will ich nicht mehr leben"
Interview mit Sahra Wagenknecht, erschienen im Stern am 22.03.2019
Stern: Frau Wagenknecht, wie ging es Ihnen, als Sie Anfang des Jahres erkrankten?
Sahra Wagenknecht: Zunächst einmal einfach schlecht. Ich war völlig ausgebrannt. Ich habe gespürt, dass ich so wie in den letzten Jahren nicht weitermachen kann.
Sie geben nun den Fraktionsvorsitz der Linken auf - ein großer Schritt.
Auch ein schmerzlicher. Die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen.
Warum ging es nicht mehr?
So wie bisher, gefangen in einem Hamsterrad von Dauerstress und Grabenkämpfen, will ich nicht mehr leben. Schon in den letzten Jahren war ich immer häufiger krank. Ich bin in die Politik gegangen, weil ich etwas bewegen will. Aber wer sich völlig aufreibt, bewegt auch nichts mehr.
Haben Sie sich in den zwei Monaten komplett ins Private zurückgezogen?
Weitgehend. Ich habe keine Mails mehr gecheckt und zunächst auch keine Politik mehr verfolgt. Ich musste zur Ruhe kommen.
Und dann haben Sie in sich hineingehorcht?
Das weniger. Als es mir etwas besser ging, habe ich das gemacht, wozu ich seit Jahren kaum noch Zeit hatte - ich habe endlich einmal wieder gelesen. Da ist mir erst aufgefallen, wie sehr mir das gefehlt hat.
Die Entspannung?
Auch. Aber vor allem die Möglichkeit, geistige Anregungen aufzunehmen, nachzudenken.
Anregungen aus einer anderen Welt als der Berliner Blase?
Ja. Kann man Menschen noch mitreißen, wenn man sich innerlich leer fühlt? Kann man neue Ideen entwickeln, wenn man keine guten Bücher mehr liest? Das ist letztlich ein Problem aller Spitzenpolitiker. Man gerät in eine Mühle, ständiger Druck, zu wenig Zeit für kreative Gedanken.
Wie fühlt sich das an?
Man spürt, dass die Substanz schwindet. Ich bin nur noch von Termin zu Termin gerannt und habe mich zunehmend gefragt, wie viel von dem, was ich da mache, überhaupt einen Sinn hat. Klar, Gremiensitzungen, Konfliktmoderation gehören zur Politik. Aber wenn die Abwehr interner Angriffe so viel Kraft kostet, dass für Angriffe auf den politischen Gegner kaum noch welche übrig bleibt, stimmt etwas nicht. Und ich musste mich fragen, ob ich in einer anderen Rolle nicht sogar mehr bewirken kann.
Gab es ein Buch, das Ihnen besonders viel gegeben hat?
Ich habe viele Sachbücher gelesen ...
Nicht Goethe, den Sie so lieben?
Doch, seine Gedichte. Sie bringen einen sofort in eine andere Welt. Gern gelesen habe ich auch den jüngsten Roman von Michel Houellebecq, "Serotonin".
Was haben Sie besonders an diesem Roman gemocht?
Houellebecq beschreibt die Leere, die der Neoliberalismus erzeugt, den Verlust an Werten und Zusammenhalt in einer Gesellschaft, in der sich alles rechnen muss.
Und sein Protagonist ist des Lebens derart überdrüssig, dass er hauptsächlich damit beschäftigt ist, sich in seinen letzten Monaten mit Alkohol und Medikamenten zu betäuben. Nicht gerade tröstlich.
Das Buch ist ja keine Handlungsanleitung, oder? Es beschreibt die Tragödie eines Lebens, in dem der Wille fehlt, sich für einen anderen Weg zu entscheiden. Jeder sollte sich bewusst machen, dass es im Leben immer eine Wahl gibt.
Sie haben gedacht: So möchte ich nicht enden?
Ja. Aber es war nicht das Buch, das nötig war, damit ich die Reißleine ziehe.
Hatten Sie Angst vor der Entscheidung?
Nein. Aber Angst vor dem Tag, an dem ich sie bekannt machen musste. Ich wusste, dass ich meine Unterstützer in Partei und Fraktion enttäusche. Und vielleicht auch viele Menschen, die meine Arbeit mit Sympathie begleitet haben. Ich musste meinem Co-Vorsitzenden Dietmar Bartsch, mit dem ich seit Jahren gut zusammenarbeite, sagen, dass unsere Verabredung, die Fraktion weiter gemeinsam zu führen, nicht mehr gilt. Und ich habe mit der Entscheidung natürlich auch meine Mitarbeiter, die sich immer für mich aufgerieben haben, kalt erwischt.
Haben Sie sich mit Ihrem Mann Oskar Lafontaine besprochen?
Klar bespricht man eine so wichtige Entscheidung. Für unsere Beziehung ist es natürlich sehr viel schöner, wenn ich nicht mehr dauernd unterwegs sein muss.
Er hat Ihnen also zugeraten - schon aus Eigeninteresse?
Nein. Er hat nie versucht, mich zu beeinflussen, denn er wollte, dass ich den Weg gehe, mit dem ich für mich im Reinen bin.
Sind Sie traurig?
Eher erleichtert. Die dreieinhalb Jahre als Fraktionsvorsitzende waren eine spannende Zeit. Trotz allem. Aber jetzt freue ich mich auf einen neuen Lebensabschnitt. Das ist kein Rückzug aus der Politik. Ich ziehe mich nur von einer bestimmten Funktion zurück.
Sie waren die Galionsfigur der Linken. Omnipräsent. Wie hart wird Ihr Rückzug die Linke treffen?
Ich bin ja nicht weg. Ich bin weiterhin Abgeordnete und werde mich einmischen. Die Linke muss entscheiden, was für eine Partei sie sein will. Es gibt zwei Konzepte linker Politik. Entweder man konzentriert sich auf die akademisch geprägten großstädtischen Milieus - den Weg ist die Parteiführung in den letzten 4 Jahren gegangen. Oder man bemüht sich um die abstiegsbedrohte Mittelschicht und die Ärmeren.
Für Sie ist das eine Grundsatzentscheidung? Entweder - oder?
Ja. Wollen wir eine hippe LifestyleLinke für Studis und die urbane Mitte sein oder eine soziale Kraft, die sich um Zustimmung bei Arbeitnehmern, Facharbeitern, Geringverdienern und Arbeitslosen bemüht, statt diese Menschen dem Nichtwählerlager oder der AfD zu überlassen. Der zweite Weg ist schwerer, denn das sind Menschen, die immer wieder politisch enttäuscht wurden und den Parteien kaum noch etwas glauben. Aber eine Linke, die von den Menschen, denen der Raubtierkapitalismus am übelsten mitspielt, nicht mehr gewählt wird, hat ihre Seele verloren.
Eine Linke, deren Führungspersönlichkeiten sich gegenseitig zerstören, aber auch. Ihr Verhältnis zu Parteichefin Katja Kipping ist zerrüttet.
In der Politik muss man sich nicht mögen. Allerdings sollte man fair miteinander umgehen. Und natürlich wehrt man sich, wenn man immer wieder angegriffen wird. In Zukunft muss ich solche Auseinandersetzungen nicht mehr führen. Insoweit fühle ich mich wirklich befreit.
Auch, weil Ihnen klar geworden ist, dass man ganz oben in der Politik keine Vertraute, keine Freunde hat?
Es stimmt: Politik ist schon eine Schlangengrube. Echte Freundschaften können in diesem Klima kaum entstehen. Einem Freund muss man vertrauen können. Da öffnet man sich und macht sich verletzbar, das muss man sich in der Politik wirklich gut überlegen.
Politik macht misstrauisch?
Man muss auch aufpassen, dass man nicht zu misstrauisch wird. Wer ständig in Freund-Feind-Kategorien denkt, wird ein argwöhnischer Mensch. Misstrauen muss Gründe haben. Etwa wenn jemand einen hintergangen hat.
Dann gibt es keine Vergebung?
Doch, auch nach Verletzungen rauft man sich oft wieder zusammen. Aber wenn jemand Vertrauen grob missbraucht hat, merkt man sich das schon.
Ist Ihr Panzer mit der Zeit und den internen Konflikten brüchiger geworden?
Man versucht, der Außenwelt weiszumachen, dass man einen Panzer hat. Es soll ja niemand wissen, wo und wie sehr man verletzbar ist. Aber tatsächlich perlen Angriffe und Diffamierungen nicht so einfach ab. Ich weiß nicht, ob es Politiker gibt, die so etwas wirklich nicht an sich ranlassen. Ich schaffe das leider nicht.
Welche Unterstellung hat Sie besonders verletzt?
Wenn man mich in die Nazi-Ecke stellt, meine Auffassungen als nationalistisch oder gar rassistisch diffamiert. So etwas ist einfach niederträchtig.
Haben Sie das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben?
Wenn sich eine solche Erzählung einmal festgesetzt hat, wird sie ständig wiederholt. Das wurde dann auch auf "Aufstehen" übertragen ...
... die von Ihnen und Ihrem Mann mit initiierte linke Sammlungsbewegung.
Auch "Aufstehen" wurde immer wieder in eine nationalistische Ecke gestellt. Mit solchen Killerargumenten verhindert man nötige Debatten. Es gibt keine soziale Politik ohne Ausbruch aus der konzerngesteuerten Globalisierung. Die Staaten müssen die Schutzfunktion gegenüber ihren Bürgern wieder wahrnehmen. Wenn Macron in Frankreich jetzt im Alleingang die Digitalsteuer einführt, weil es in der EU keine Mehrheit dafür gibt, handelt er nicht nationalistisch, sondern vernünftig.
Hatten Sie jemals den Gedanken, die Partei ganz zu verlassen?
Mir ist immer unterstellt worden, dass ich mit "Aufstehen" ein Alternativ-Projekt gründen wollte. Das war Unsinn.
Sie fühlten sich missverstanden?
Ich finde es traurig, mit welcher Ablehnung die linken Parteien auf das Projekt reagiert haben. Man hat die Chance, die damit verbunden war, mutwillig ausgeschlagen.
Haben Sie denn wirklich für Ihre Idee bei Kipping und Co. geworben - oder sie lieber ohne Austausch, im Alleingang durchgezogen?
Ich habe immer geworben. Da "Aufstehen" keine Partei werden soll, ist das Projekt darauf angewiesen, dass die Parteien sich öffnen. Sie haben sich aber lieber eingemauert. Bloß nichts ändern am eingefahrenen Kurs ...
Sie sagen, dass Sie wieder mehr zu sich kommen wollen. Aber, ehrlich, Sie können doch gar nicht ohne Politik, oder?
Ich werde jetzt sicher nicht mein Leben damit verbringen, dass ich Fahrrad fahre, koche und das schöne Wetter genieße. Da hätte ich das Gefühl, mich selbst zu verraten.
Haben Sie für die Politik etwas geopfert, was Sie heute bereuen?
Dass die Politik in den letzten Jahren meine private Zeit so extrem begrenzt hat, habe ich immer als Verlust empfunden. Aber ich bin ein politischer Mensch. Deswegen hätte ich kein unpolitisches Leben führen können.
Aber hat sich für Sie in den vergangenen zwei Monaten die Frage nach dem Sinn des Lebens neu gestellt?
Ich werde dieses Jahr 50. Spätestens dann begreift man, dass man nicht mehr unbegrenzt Zeit hat, um die Dinge zu tun und zu erreichen, die einem wirklich wichtig sind.
Was wünschen Sie sich zu Ihrem 50.?
Ich hoffe, dass bis dahin die Dinge in der Fraktion gut geregelt wurden ...
...nicht Ihr Ernst!
Ich meine: dass ich bis dahin aus meiner Funktion raus bin und einen neuen Lebensabschnitt beginnen kann! Wir werden zu meinem Geburtstag in der Bretagne im Urlaub sein. Da wünsche ich uns schlicht Gesundheit und Sonnenschein, sodass wir an dem Tag mindestens 100 Kilometer Rad fahren können.