Deswegen hält die Linken-Politikerin Sanktionen gegen Russland für eine „ziemlich dumme Strategie“
Interview mit Sahra Wagenknecht, erschienen am 12.05.2022 in der Südwest Presse
Fast wären die Linken aus dem Bundestag geflogen. Eine der wichtigsten Stimmen der Partei ist nach wie vor Sahra Wagenknecht. Die Bundestagsabgeordnete ohne Parteifunktion ist auch eine Stimme gegen den Ukraine-Kurs der Bundesregierung.
Frau Wagenknecht, wir alle kennen das Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko mit der berühmten Frage: Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Muss diese Frage heute anders als mit Nein beantwortet werden?
Wagenknecht: Ich glaube, dass auch heute die meisten Menschen keinen Krieg wollen. Ob es nun Deutsche, Ukrainer oder Russen sind. Trotzdem gibt es immer wieder Politiker, die auf Gewalt setzen, um geostrategische Ziele zu erreichen. So wie jetzt Russland in der Ukraine. Ich verurteile diesen Krieg. Aber ich bin der Meinung, dass er durch eine klügere Politik im Vorfeld verhinderbar gewesen wäre.
Sie meinen die NATO?
Wagenknecht: Ja. Und vor allem die USA.
Die USA hätten den Krieg verhindern können?
Wagenknecht: Trotz des Vetos von Frankreich und Deutschland gegen die baldige Aufnahme der Ukraine haben die USA die Integration der Ukraine in die militärischen Strukturen der NATO systematisch vorangetrieben. 2000 US-Soldaten waren vor dem Krieg in der Ukraine stationiert, 2021 fanden NATO-Manöver auf ukrainischem Territorium statt. Der Kreml hat immer wieder signalisiert, dass Russland das als Provokation empfindet.
Die Ukraine ist ein souveränes Land.
Wagenknecht: Es geht nicht darum, ob Russland das Recht dazu hatte, sondern womit man rechnen muss, wenn eine Großmacht seine Sicherheitsinteressen verletzt sieht. Was glauben Sie, was passiert, wenn Russland einen Militärstützpunkt in Venezuela oder Nicaragua einrichten wollte.
Das stand nie zur Debatte.
Wagenknecht: Weil kein mittelamerikanisches Land das riskieren würde, denn natürlich würden die USA militärisch reagieren. In der Kuba-Krise hat das einst die Menschheit an den Rand des III. Weltkriegs gebracht. Und wir erleben aktuell, dass die USA den Salomonen, einem kleinen Inselstaat im Südpazifik, unverhohlen mit Krieg drohen, weil dort eine chinesische Militärbasis entstehen soll.
Putin hat aber zunächst seinen Krieg gar nicht so sehr mit der NATO begründet, sondern mit eher mit großrussischen Ansprüchen und der Leugnung des Existenzrechtes der Ukraine.
Wagenknecht: Der Konflikt um die NATO-Osterweiterung schwelte doch schon lange. Der jetzige CIA Chef, Wiliam J. Burns, der auch mal Botschafter in Moskau war, hat noch 2019 von einer „völlig unnötigen Provokation“ gesprochen. Bei der Einordnung der nationalistischen Rede Putins sollten wir bedenken: Wenn Politiker ihr Volk auf Krieg einschwören, sagen sie selten, worum es wirklich geht.
Der Krieg dreht sich also tatsächlich um die mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine?
Wagenknecht: Russland hat die Osterweiterung des westlichen Bündnisses immer kritisiert, die Ukraine war die rote Linie. Die russische Führung wollte nicht hinnehmen, dass auch noch die Ukraine zur US-Einflusszone wird und da möglicherweise irgendwann Raketenbasen stehen so wie in Polen und Rumänien. Natürlich sagt die NATO, sie bedroht Russland nicht. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass man das im Kreml anders sieht. Nachdem Russland mit diplomatischen Protesten jahrelang auf taube Ohren gestoßen war, hat man die militärische Karte gezogen. Das rechtfertigt den Krieg nicht, aber es gehört zu seiner Vorgeschichte.
Zu der gehören zahlreiche diplomatische Versuche, die Lage zu entschärfen.
Wagenknecht: Das gilt für Frankreich und Deutschland, aber nicht für den entscheidenden Akteur: die Vereinigten Staaten. Laut einem Bericht des Wallstreet Journal hat Olaf Scholz noch auf der Münchner Sicherheitskonferenz versucht, den ukrainischen Präsidenten dazu zu bewegen, das Ziel einer NATO-Mitgliedschaft aufzugeben. Das wollte Selenskyj nicht und das wollten die USA nicht.
Sie haben den russischen Angriffskrieg verurteilt, sind aber gegen Waffenlieferungen, weil die den Krieg verlängern.
Wagenknecht: Je mehr Waffen wir liefern, desto brutalere Waffen wird auch Putin einsetzen und desto mehr Menschen werden sterben. Es kann niemand glauben, dass Russland sich irgendwann einfach geschlagen gibt, ohne vorher alle seine militärischen Optionen ausgereizt zu haben. Dazu gehört am Ende auch die nukleare.
Also?
Wagenknecht: Also muss verhandelt und ein Kompromiss gesucht werden, mit dem beide Seiten leben können. Den scheinen aber einige nicht zu wollen. Biden und Johnson haben offen andere Kriegsziele formuliert: die maximale Schwächung Russlands durch einen langen Krieg. Das ist wegen der möglichen Eskalationspotentiale unverantwortlich und gegenüber den Menschen in der Ukraine zynisch.
Sind die Wirtschaftssanktionen richtig?
Wagenkencht: Schaden wir dadurch Putin oder in erster Linie uns selbst? Ich denke letzteres. Der durch die Sanktionsdebatte in die Höhe geschossene Ölpreis füllt Putins Kassen und da sich der größte Teil der Welt nicht an den Sanktionen beteiligt, kann Russland seine Rohstoffe auch woanders verkaufen. Aber für uns bedeuten das: Wir tauschen billiges russisches Gas gegen teures Flüssiggas aus den USA und dem Nahen Osten. Eine ziemlich dumme Strategie, mit der wir die Inflation hochtreiben und die Abwanderung ganzer Industriebranchen riskieren.
Sanktionen funktionieren nicht, Waffenlieferungen sind falsch...was dann?
Wageknecht: Wir brauchen Diplomatie. Verhandlungen. Die Bereitschaft zu Kompromissen.
Und die Ukraine muss kapitulieren?
Wagenknecht: Das wäre wohl kaum ein Kompromiss. Es geht darum, den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen.
Der Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft ist der Schlüssel?
Wageknecht: Nach meiner Einschätzung ja. Neutralität. Keine NATO-Truppen und keine Raketenbasen in der Ukraine. Sonderstatus für die Krim und den Donbas. Im Gegenzug Sicherheitsgarantien für die Ukraine. So weit war man in Istanbul schon mal. Aber dann wurde Selensky von Johnson und Biden gerüffelt, keine Kompromisse zu machen, und die Verhandlungen waren tot.
Was ist mit der Souveränität der Ukraine? Die Atommacht droht mit ihrem Vernichtungspotenzial und das schwächere Land muss Zugeständnisse machen?
Wagenknecht: Ich hätte auch lieber eine Welt, in der es gerecht und friedlich zugeht. Das ist aber nicht die Realität. Im Irak, in Afghanistan, in Libyen und anderswo haben die USA ihre Interessen mit militärischen Mitteln durchgesetzt. So wie jetzt Russland in der Ukraine. Die Frage ist: rechtfertigt das Ziel einer NATO-Mitgliedschaft, dass man den Krieg auf unabsehbare Zeit verlängert und Hunderttausende weitere Tote in Kauf nimmt? Meines Erachtens wäre das unverantwortlich.
Angenommen der Kompromiss gelänge – welche Garantien gäbe es, dass Putin das nicht als Zeichen der Schwäche interpretiert und als nächstes Moldau überfällt. Oder das Baltikum? Oder Polen?
Wagenknecht: Wenn es stimmt, dass die Haupursache dieses Krieges ist, dass die Ukraine auf dem Weg in die NATO war, dann bestünde diese Gefahr ja nur, wenn auch Moldawien oder Georgien eine NATO-Mitgliedschaft anstreben. Die baltischen Staaten und Polen dagegen sind längst in der NATO. Da weiß auch Russland, dass ein Angriff unabsehbare Konsequenzen hätte.
Und wenn es nicht stimmt? Wenn die Ursache des jetzigen Krieges der russische, der postsowjetische Imperialismus ist?
Wagenknecht: Dagegen spricht, dass der Kreml in Istanbul den erwähnten Kompromiss schon weitgehend abgesegnet hatte. Dann hat der Westen interveniert und damit möglicherweise ein rasches Kriegsende verhindert.
Sie glauben an die Kompromissbereitschaft Putins?
Wagenknecht: Wir müssen alles dafür tun, sie auszutesten. Mir ist aufgefallen, dass Putin sich in seiner Rede am 9. Mai, dem Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus, sehr zurückhaltend geäußert hat.
In diesen Tagen wird sehr häufig vom drohenden Atomkrieg gesprochen. Halten Sie diese Apokalypse für wahrscheinlich.
Wagenknecht: Wenn der Konflikt weiter eskaliert, wächst zumindest die Gefahr. Was macht Putin, wenn er mit massivem westlichen Waffenaufgebot in die Enge gedrängt wird? Ein anhaltender Krieg bedeutet, dass sich Dinge verselbständigen können. Was passiert zum Beispiel, wenn Russland einen Waffenkonvoi angreift, bevor der die Ukraine erreicht? Feuern wir dann aus vollen Rohren zurück? Dann sind wir im Krieg mit Russland und ein solcher Krieg wird irgendwann mit Nuklearwaffen geführt werden.
Nun haben wir Krieg in Europa – und die Friedenspartei, die Linke, ist wie gelähmt. Ein Parteigründer ist ausgetreten, eine Vorsitzende zurückgetreten – ein schlimmes Wahlergebnis nach dem anderen. War es das mit Ihrer Partei?
Wagenknecht: Ich hoffe nicht. Gerade jetzt würde die Linke gebraucht. Nach Umfragen sind 45 Prozent gegen die Lieferung schwerer Waffen. Diese Menschen brauchen doch eine politische Vertretung. Auch wenn es um die Ablehnung der wahnwitzigen Aufrüstung geht. Oder um die Inflation, die den Menschen das Einkommen wegfrisst. Die Linke hätte genug Aufgaben.
Nur weiß niemand, wofür die Linken wirklich stehen?
Wagenknecht: Das ist das Problem. Parteien, die nicht wissen, was sie eigentlich wollen, werden nicht gewählt.
…Möglicherweise ist der Vorrat an Gemeinsamkeiten einfach aufgebraucht.
Wagenknecht: Wir haben einen Gründungskonsens, ein Parteiprogramm. Soziale Gerechtigkeit und die Ablehnung von Krieg: das waren unsere Kernthemen. Wir sollten uns auf den Kurs zurückbesinnen, mit dem wir mal erfolgreich waren.
Was ist denn schuld an dem rasanten Abstieg der Linken?
Wagenknecht: Die Abkehr von unserem Gründungskonsens. Wir haben viele neue junge Mitglieder. Das ist schön. Aber ein Teil von ihnen kommt aus ziemlich privilegierten Verhältnissen und beschäftigt sich mit Themen, für die jemand, der für 1300 Euro netto schuftet oder von einer kleinen Rente leben muss, wenig Verständnis hat. Wenn bei Parteiveranstaltungen erst einmal aufwendig geklärt werden muss, mit welchem Pronomen man einander korrekt anspricht, werden wir die Menschen nicht erreichen.
Vielleicht ist den Menschen inzwischen egal, was die Linken sagen.
Wagenknecht: Ich bekomme viele Mails, in denen sich die Absender eine Partei wünschen, die laut ausspricht, was viele, die von den anderen Parteien vergessen werden, bewegt.
Steht in diesen Mails nicht auch etwas über den Wunsch, dass Sie wieder eine führende Rolle in der Partei spielen sollen?
Wagenknecht: Ich bin nach wie vor Teil der Linken. Ich trete in der Öffentlichkeit für sie auf. Aber für den Parteivorsitz werde ich definitiv nicht kandidieren.
Und Sie spielen nicht mit dem Gedanken, es Oskar Lafontaine nachzutun und die Partei zu verlassen? Etwa nach einem gescheiterten Parteitag?
Wagenknecht: Ich hoffe, dass der Parteitag nicht scheitert, sondern wir danach mit einer neuen Führung den Niedergang stoppen können.
Wie denn? Niemand hat Verantwortung für die Wahlniederlage im September übernommen und niemand scheint jetzt das Heft des Handelns zu nehmen.
Wagenknecht: Aber jetzt wird der Parteivorstand neu gewählt. Und ich hoffe, dass Persönlichkeiten gewählt werden, die das Potenzial haben, die Menschen wieder zu erreichen und nicht nur ihre persönliche Twitterblase.
Und wenn das nicht klappt, steht dann die von Ihnen mitgegründete Bewegung „Aufstehen“ gewissermaßen als Kampfreserve der Partei zur Verfügung?
Wagenknecht: Ich wünsche mir, dass es klappt.
Vielen Dank für das Gespräch.