Sahra Wagenknecht

Auswirkungen des "Rüffert-Urteils" des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften

Antwort der EU-Kommission vom 08.09.08 auf die Schriftliche Anfrage von Sahra Wagenknecht vom 07.07.08

08.09.2008

Schriftliche Anfrage von Sahra Wagenknecht an die EU-Kommission vom 07.07.08

  1. Teilt die Kommission die Befürchtung, dass das „Rüffert"-Urteil die Verlagerung von Unternehmen in Länder mit niedrigeren Löhnen und Sozialstandards begünstigen kann, und falls ja, was gedenkt sie, dagegen zu unternehmen?
  2. Welche Auswirkungen hat das „Rüffert"-Urteil nach Einschätzung der Kommission auf die Gleichbehandlung von einheimischen und ausländischen Unternehmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge? Handelt es sich nicht um eine Diskriminierung einheimischer Unternehmen, wenn sich die Unternehmen anderer EU-Mitgliedstaaten lediglich an die Mindestbedingungen der Entsenderichtlinie halten müssen?
  3. Sieht die Kommission Handlungsbedarf zur Schaffung eines europarechtlichen Rahmens, der nationalstaatliche Tariftreuegesetze als europarechtskonform ermöglicht?
  4. Wie beurteilt die Kommission das Verhältnis der Entsenderichtlinie zu den Vergaberichtlinien im Hinblick auf die Geltung von Tariftreueklauseln? Hat die Entsenderichtlinie Vorrang vor den Vergaberichtlinien oder ist es nicht vielmehr so, dass bei der Frage der Geltung von Tariftreueklauseln die Vergaberichtlinien als lex specialis die Entsenderichtlinie verdrängen?
  5. Teilt die Kommission die Ansicht, dass das „Rüffert"-Urteil in Widerspruch zum Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation zu Tariftreuevorschriften im Rahmen von öffentlichen Aufträgen (ILO-Konvention 94) steht? Hat die deutsche Regierung nach dem „Rüffert"-Urteil immer noch die Möglichkeit, die ILO-Konvention 94 zu ratifizieren?

Antwort von Binnnenmarktkommissar Charlie McCreevy im Namen der EU-Kommission vom 08.09.2008

  1. Der Kommission liegen keine Hinweise darauf vor, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) im Fall Rüffert (Fall C-346/06) zur Verlagerung von Arbeitsplätzen in Länder mit niedrigeren Löhnen und Sozialstandards führen könnte. Das Urteil betrifft einen sehr spezifischen Fall, in dem ausländische Dienstleister durch regionale Rechtsvorschriften im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe dazu verpflichtet werden, bei der Durchführung öffentlicher Werkverträge Arbeitsbedingungen einzuhalten, die in nicht für allgemeinverbindlich erklärten örtlichen Tarifverträgen festgelegt wurden, obwohl in Deutschland die Möglichkeit besteht, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären.
  2. Die Kommission ist nicht der Ansicht, dass das Rüffert-Urteil konkrete Auswirkungen oder Folgen für den Grundsatz der Gleichbehandlung und Diskriminierungsfreiheit ausländischer Arbeitnehmer hat. In Bezug auf eine mögliche Diskriminierung eigener Staatsangehöriger steht es dem nationalen (bzw. in diesem Fall regionalen) Gesetzgeber darüber hinaus frei zu entscheiden, ob er die mit der gemeinschaftlichen Dienstleistungsfreiheit unvereinbaren Rechtsvorschriften auch im Hinblick auf rein innerstaatliche Fälle ändern sollte oder möchte.
  3. Angesichts der vorstehenden Feststellungen und der Tatsache, dass es nach den Richtlinien über das öffentliche Auftragswesen[1] bereits gestattet ist, soziale Erwägungen zu berücksichtigen, sofern diese mit dem Gemeinschaftsrecht im Einklang stehen, sieht die Kommission keine Notwendigkeit, Rechtsvorschriften auf europäischer Ebene zu erlassen, nach denen die vom Rüffert-Urteil des EuGH erfassten Tariftreueklauseln als konform mit dem Gemeinschaftsrecht angesehen werden könnten.
  4. Wie bereits erwähnt, ist es den öffentlichen Auftraggebern nach den Richtlinien über die öffentliche Auftragsvergabe[2] bereits gestattet, besondere Bedingungen für die Ausführung eines Auftrags festzulegen, bei denen auch soziale Erwägungen berücksichtigt werden können, wenn diese Bedingungen (sowie darüber hinaus die Vergabe des öffentlichen Auftrags) und ihre Umsetzung im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht stehen. Bei der Auftragsvergabe sind daher die im EG-Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten zu berücksichtigen, darunter auch der Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit, der wiederum durch die Entsenderichtlinie mit der Notwendigkeit in Einklang gebracht werden soll, den Schutz der Rechte von Arbeitnehmern, die vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, um diese Dienstleistungen zu erbringen, zu garantieren.
    Angesichts der vorstehenden Feststellungen und unter Berücksichtigung der Antwort auf Frage 2 stellt sich daher im vorliegenden Fall nicht die Frage, welche der Richtlinien Vorrang hat oder einem „lex specialis" entspricht.
  5. Das ILO-Übereinkommen Nr. 94 über Arbeitsklauseln in öffentlichen Verträgen, auf das sich die Frau Abgeordnete bezieht, wurde im Jahr 1949 von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verabschiedet und von 10 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert. Da Deutschland dieses Übereinkommen nicht ratifiziert hat, musste sich das Gericht im vorliegenden Fall nicht mit der Frage einer möglichen Anwendbarkeit des ILO-Übereinkommens Nr. 94 befassen.

[1] Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. L 134 vom 30.4.2004); Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 134 vom 30.4.2004).

[2] Siehe auch die Mitteilung der Kommission über die Auslegung des gemeinschaftlichen Vergaberechts und die Möglichkeiten zur Berücksichtigung sozialer Belange bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, KOM(2001) 566 endg. vom 15. Oktober 2001.