Sahra Wagenknecht

Kanzlerin Europas

Artikel von Sahra Wagenknecht in der Tageszeitung "junge welt" am 02.05.08

02.05.2008

Ob Euro, Zentralbank und Verfassung, ob Steuer- und Lohndumpingpolitik: Die EU trägt die neoliberale Handschrift der aktuellen Bundesregierung und ihrer Frontfrau Angela Merkel

Am 1. Mai nahm Kanzlerin Angela Merkel den wohl renommiertesten europäischen Preis in Empfang: den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen, der seit 1950 jedes Jahr an Politiker oder Institutionen verliehen wird, die sich angeblich um die »europäische Einigung in besonderem Maße verdient« gemacht haben. Wie das Karlspreisdirektorium, in dem neben Vertretern der Stadt Aachen auch der Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie diverse Wirtschafts- und Kirchenvertreter sitzen, verlauten ließ, hat Frau Merkel den Preis »in Würdigung ihres herausragenden Beitrags zur Überwindung der Krise der EU« erhalten. Nachdem das Projekt einer europäischen Verfassung zunächst am Widerstand der französischen und niederländischen Bevölkerung gescheitert war, sei es Frau Merkel mit ihrer »ebenso tatkräftigen wie umsichtigen und integrierenden Politik des EU-Ratsvorsitzes« gelungen, »die Weichenstellungen hin zu einem neuen Aufbruch der Union« vorzunehmen, so die Begründung des Direktoriums.

Die Laudatio auf Angela Merkel hielt der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der am 1. Juli den Vorsitz der EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird. Sollte Frankreichs Staatsoberhaupt bei seinen Plänen zur Errichtung einer Mittelmeerunion auf Merkels Interessen hinreichend Rücksicht nehmen, könnte man Wetten darauf abschließen, daß Sarkozy im Laufe der nächsten Jahre ebenfalls den Karlspreis in Empfang nehmen darf: Für besondere Verdienste bei der Sicherung der Festung Europa gegen Flüchtlinge und Einwanderer, was im Sinne der Preisverleiher ganz sicher auch ein »Beitrag zur europäischen Einigung« ist (siehe jW v. 18.4.20008, S. 10/11). Zur Liste der bisherigen Karlspreisträger, auf der sich antikommunistische Hardliner, diverse Könige sowie zahlreiche konservative und wirtschaftsliberale »Vordenker« tummeln, würde Sarkozy jedenfalls gut passen.

Doch zurück zu Frau Merkel und zur deutschen Europapolitik der letzten Jahre, die großen Anteil daran hat, daß Armut und soziale Ausgrenzung EU-weit auf dem Vormarsch sind. Vom Vertrag von Maastricht über die Einführung des Euro bis zur Lissabon-Strategie, die in Deutschland unter dem Namen »Agenda 2010« umgesetzt wurde; von der aggressiven Außenhandels- und Privatisierungspolitik über den Krieg gegen Jugoslawien bis zur heutigen Aufrüstungs- und Militärpolitik der EU: Bei nahezu allen Weichenstellungen in Richtung einer neoliberalen und militaristischen EU haben deutsche Regierungen an entscheidender Stelle mitgewirkt. Insofern trägt deren Politik auch einen Großteil der Verantwortung für die Akzeptanzkrise des europäischen Integrationsprojekts, die man nun zu bewältigen versucht, indem man der europäischen Bevölkerung kurzerhand das Recht nimmt, über den EU-Reformvertrag auch nur ein Wörtchen mitzureden.

BRD-Modell: Euro und Zentralbank

Es empfiehlt sich, eine Analyse der neueren deutschen Europapolitik mit einem früheren Karls­preisträger zu beginnen, der zudem wie kaum ein anderer die Zweifelhaftigkeit des Preises per se illustriert: dem Euro. »Das Karlspreisdirektorium ehrt mit dem Euro eine Maßnahme, die stabilisierend für die Gemeinschaft wirkt, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unterstützt und die Basis bildet für eine abgestimmte Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie für andere politische Felder der Gemeinschaft«, so die Begründung des Karlspreisdirektoriums aus dem Jahr 2002.

Tatsächlich waren die europäische Währungsunion und die Gründung der Europäischen Zentralbank eine wichtige Weichenstellung in Richtung eines neoliberalen Europas. Dabei hat die deutsche Regierung eine besondere Rolle gespielt. So wurden Befürchtungen, die neue europäische Währung könne sich als weniger stabil erweisen als die D-Mark, dazu genutzt, um das Modell der Deutschen Bundesbank für die EZB durchzusetzen. Wichtig ist dabei vor allem ihre »Unabhängigkeit«, mit der jegliche demokratische Kontrolle der europäischen Währungspolitik ausgeschlossen wird. Außerdem wurde die EZB allein auf das Ziel der Preisstabilität festgelegt. Neben einer Politik der hohen Zinsen bedeutet dies, daß die EZB regelmäßig an die Gewerkschaften appelliert, auf steigende Preise und unverschämte Profite der Konzerne gefälligst nicht mit entsprechenden Lohnforderungen zu reagieren. Der Sitz der EZB ist auch nicht zufällig in Frankfurt am Main, wo die meisten der deutschen Großbanken angesiedelt sind.

Auf deutschen Druck hin wurde im Vorfeld der Einführung des Euro der sogenannte Stabilitätspakt verabschiedet, der Obergrenzen für die Verschuldung der öffentlichen Haushalte vorsieht. Entgegen aller ökonomischen Vernunft, aber sehr zum Vorteil der Vermögensbesitzer und Hungerlohnprofiteure sind die Euro-Staaten damit sogar in wirtschaftlichen Krisenzeiten zu Spar- und Kürzungsprogrammen gezwungen, wodurch sich Wirtschaftsabschwünge verlängern und vertiefen. Zwar wurde der Stabilitätspakt inzwischen leicht modifiziert; trotzdem sind bis heute alle politischen Maßnahmen dem Ziel der Haushaltskonsolidierung untergeordnet.

Das makroökonomische Regime der EU basiert aber noch auf einer zweiten Fehlkonstruktion: Während man die Verantwortung für die Währungspolitik der EZB übertragen hat, sind für die Steuerpolitik weiterhin die Mitgliedstaaten allein zuständig. Resultat ist ein verschärfter Steuerwettbewerb, der die Einnahmenbasis der öffentlichen Haushalte zerstört, dabei vor allem Unternehmen und Reiche begünstigt, während Beschäftigte und Verbraucher einen immer größeren Teil der verbleibenden Steuerlast zu tragen haben.

Nase vorn beim Steuernsenken

Laut EU-Kommission wurden Kapital- und Unternehmenseinkünfte in Deutschland 2005 im Schnitt mit 19,3 Prozent besteuert und lagen damit deutlich niedriger als in den »alten« EU-Mitgliedstaaten (EU-15) und sogar niedriger als im Durchschnitt der EU-27. Dagegen werden die Einkünfte der Beschäftigten mit 38,7 Prozent hierzulande doppelt so hoch mit Steuern und Abgaben belastet wie im Durchschnitt der EU (19,4 Prozent). Zwar belief sich der nominelle Steuersatz für Kapitalgesellschaften in Deutschland bis vor kurzem noch auf 39 Prozent und der Spitzensteuersatz für Personengesellschaften auf 42 Prozent. Die effektive – d. h. real von den Unternehmen bezahlte – Steuerquote lag allerdings bereits im Jahr 2005 mit etwa 16 Prozent nicht einmal halb so hoch.

Superweiche Samthandschuhe trägt der deutsche Fiskus, wenn es um die Besteuerung der Kapitaleinkommen privater Haushalte geht. Mit einem Anteil dieser Steuern von 0,3 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt Deutschland bei nicht einmal der Hälfte des Durchschnitts der Alt-EU-Länder (0,8) und sogar unterhalb Osteuropas (0,4). Wobei zu bedenken ist, daß es in der BRD ungleich mehr Kapitalrentiers gibt als in vielen anderen EU-Staaten, von Osteuropa ganz zu schweigen. Der gleiche Kontrast – überdurchschnittliche Bestände und weit unterdurchschnittliches Steueraufkommen – existiert mit Bezug auf die privaten Vermögen in Deutschland. Während der BIP-Anteil aller Steuern auf Vermögen (einschließlich Erbschaftssteuer) 2004 nach den Zahlen der OECD in der EU-15 bei 2,1 Prozent lag und in den USA immerhin bei 3,1 Prozent, bringt es die Bundesrepublik gerade einmal auf einen Anteil von 0,9 Prozent.

Lediglich bei der immer weitergehenden Absenkung derartiger Steuern liegt Deutschland ganz im Trend. Mehr noch: Seit der »rot-grünen« Unternehmenssteuerreform aus dem Jahre 2000 gehört die Bundesrepublik zu jenen Ländern, die das europaweite Steuerdumping massiv anheizen. Mit diesem Großprojekt des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder wurde die Körperschaftssteuer von 40 Prozent auf 25 Prozent gesenkt. Steuern auf Veräußerungsgewinne wurden ganz abgeschafft. Die Folge: Im Jahr 2001 haben die Unternehmen gar keine Steuern mehr gezahlt, sondern noch 400 Millionen Euro vom Fiskus zurückbekommen. Auch in den Folgejahren dümpelten die Gewinnsteuern auf niedrigem Niveau. Die Steuerbefreiung der Veräußerungsgewinne war darüber hinaus ein Förderprogramm für »Heuschrecken« und Private-Equity-Fonds, die mit dem Aufkaufen, Ausschlachten und Weiterverkaufen von Betrieben ihr Geld verdienen.

Die Folgen dieser Steuerpolitik liegen auf der Hand. Wo öffentliche Einnahmen fehlen und die Verschuldung aufgrund der Maastricht-Kriterien nicht ausgeweitet werden darf, muß gespart und gekürzt werden, »bis es quietscht«. Notwendige Investitionen bleiben aus, Beschäftigte werden entlassen oder in prekäre Jobs abgedrängt. Da die Steuerlast auf die Verbraucher abgewälzt wird, wächst die Ungleichverteilung, und die Binnennachfrage wird abgewürgt.

Die Regierung Merkel hat selbstverständlich nichts unternommen, um diesem Trend entgegenzuwirken – im Gegenteil: Nicht nur, daß sie es versäumt hat, die Frage der Bekämpfung des europäischen Steuerdumpings auf die Agenda ihrer Ratspräsidentschaft zu setzen. Sie hat neue Steuergeschenke an die Reichen ausgeteilt und damit das europäische Steuerdumping weiter vorangetrieben (siehe jW v. 28.2. und 1.3.2007). Obwohl die deutschen Konzerne in den letzten Jahren Rekordgewinne verbuchen konnten, wurde ihnen mit der Unternehmenssteuerreform 2008 ein weiteres Geschenk in Höhe von mindestens zehn Milliarden Euro gemacht. Hinzu kommen weitere Steuersenkungen für Vermögende: Man denke an die Einführung steuerbegünstigter Immobilienfonds im Jahr 2007. Bezahlt haben für diese Geschenke zum einen die Verbraucher, denen man im selben Jahr mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte allein etwa 20 Milliarden Euro aus der Tasche gezogen hat. Hinzu kamen die Senkung des Sparerfreibetrags, die Kürzung der Pendlerpauschale sowie höhere Energiesteuern. Arbeitslose, Rentner und Niedrigverdiener, die unter Konsumsteuern wie der Mehrwertsteuer am meisten leiden, zahlen so am Ende die Milliarden, die Merkels Steuerpolitik in die Taschen der Aktionäre und Vermögensmillionäre spült.

Und weitere Steuersenkungen für Reiche sind geplant: Ab Januar 2009 sollen Kapitalerträge mit einer einheitlichen Abgeltungssteuer von 25 Prozent belegt werden. Bisher haben Zinsrentiers ihre Einnahmen immerhin zum persönlichen Steuersatz, in der Spitze also mit 42 Prozent, versteuern müssen. Schätzungsweise zwei Milliarden Euro schwer ist dieses neuerliche Präsent an die oberen Zehntausend, die außerdem die Erbschaftssteuerreform mit Freude erwarten dürften.

Vorreiter beim Lohndumping

Die aggressive Dumpingstrategie, die von der deutschen Regierung in Europa verfolgt wird, zeigt sich auch in anderen Bereichen – man denke an die Ausweitung des Niedriglohnsektors und den verschärften Druck auf Arbeitslose, durch den es gelungen ist, die Löhne in Deutschland in EU-weit beispielloser Weise zu drücken. Aus Sicht der deutschen Unternehmen war die Agenda 2010 ein sehr erfolgreiches Programm zur Steigerung ihrer Profite und ihrer Fähigkeit zur internationalen Expansion. Nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind die nominalen Arbeitskosten in der Bundesrepublik im letzten Jahr erneut so wenig gestiegen wie in keinem anderen der 27 EU-Mitgliedstaaten. Und entgegen dem europäischen Trend sind die Lohnstückkosten – die Lohnkosten im Verhältnis zur Produktivität – in Deutschland seit 2003 geradezu eingebrochen. Dazu beigetragen haben die Zerstörung der gesetzlichen Rente und Hartz IV, dank derer »Lohnnebenkosten«, also die Sozialbeitragspflichten der Unternehmen, erheblich verringert werden konnten: »Laut Statistischem Bundesamt fielen 2007 hierzulande je 100 Euro Bruttolohn nur noch 32 Euro Lohnnebenkosten an. Im europäischen Vergleich nimmt Deutschland damit den 14. Platz ein – noch hinter Rumänien«, so die Frankfurter Rundschau vom 23.April 2008.

Bei den Reallöhnen sieht es noch düsterer aus: Nach Berechnungen des gewerkschaftsnahen Forschungsinstituts WSI sind die Verdienste der Beschäftigten in Deutschland seit der Jahrtausendwende nur um rund ein Prozent gestiegen und in den letzten vier Jahren stetig gefallen. Mit dieser Entwicklung liegt die Bundesrepublik auf dem vorletzten Platz in der EU. Im Durchschnitt sind die Reallöhne in der EU zwischen 2000 und 2006 um 6,2 Prozent gestiegen – in Staaten wie Irland, Großbritannien, Dänemark oder Schweden sogar um mehr als zehn Prozent.

Natürlich könnte die von Merkel geführte Bundesregierung etwas gegen Lohndumping tun. Sie könnte zum Beispiel auch in Deutschland einen Mindestlohn einführen, wie er in 20 von 27 EU-Ländern längst üblich ist. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen verdient heute jeder fünfte abhängig Beschäftigte weniger als 9,58 Euro (Westdeutschland) bzw. 6,97 Euro brutto (Ostdeutschland) in der Stunde und liegt damit unter der Niedriglohngrenze. Angesichts des skandalösen Zustands, der sieben von 31 Millionen Beschäftigten dazu zwingt, ihre Arbeitskraft zu Dumpinglöhnen zu verkaufen, ist es schon erstaunlich, daß sich an der hartnäckigen Weigerung der großen Koali­tion, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, keine heftigere öffentliche Kritik entzündet.

Zwar sind niedrige Löhne von Vorteil für die deutsche Exportwirtschaft. Die Unternehmen, die hauptsächlich für den Binnenmarkt produzieren, leiden allerdings in wachsendem Maße unter der geringen Massenkaufkraft. Vor allem aber wirkt sich die Lohndumpingstrategie Deutschlands schädlich auf die europäischen Nachbarländer aus. Im Außenhandel mit den anderen EU-Mitgliedstaaten erzielte die BRD im Jahr 2007 einen Überschuß von 162 Milliarden Euro – Tendenz steigend. So sind allein die Überschüsse, die die deutsche Wirtschaft im Handel mit Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, Österreich und Polen erzielt, zwischen 2004 und 2007 von 105 auf 136 Milliarden Euro angestiegen. Um gegen die Konkurrenz deutscher Unternehmen anzukommen, sehen sich diese Länder nun ebenfalls verstärktem Druck ausgesetzt, die Löhne im eigenen Land zu senken. Dies trifft besonders für die Länder der Eurozone zu, die keine Möglichkeit haben, den Verlust von Wettbewerbsfähigkeit durch eine Abwertung ihrer Währung zu kompensieren.

Merkel und der »Reformvertrag«

Nicht nur die deutsche Regierung, auch die europäischen Institutionen tragen mit ihrer Politik zu verschärfter Armut und Sozialdumping bei. Als ein Beispiel unter vielen mag hierfür die Politik des ehemaligen Binnenmarktkommissars Frits Bolkestein herangezogen werden. Mit der Bolkestein-Richtlinie wird ein Binnenmarkt auch für Dienstleistungen durchgepeitscht, was voraussetzt, daß öffentliche Aufgaben – von der Bildung über die Gesundheit bis zur Wasserversorgung – überhaupt als Märkte organisiert bzw. in Waren verwandelt werden (siehe jW v. 11.2.2006, S. 10/11). Statt einer europaweiten Angleichung von Sozial- und Umweltstandards sowie Verbraucherschutzrechten sieht die Bolkestein-Richtlinie eine vollständige Deregulierung vor: Nach dem Herkunftslandprinzip (das zwar umbenannt wurde, in der Substanz jedoch weiter besteht) ist ein Unternehmen, das im EU-Ausland tätig ist, nicht länger verpflichtet, sich an die dortigen Gesetze zu halten, sondern hat lediglich die Gesetze und Bestimmungen des Landes zu beachten, in dem es niedergelassen ist. Daß dies zu einem Dumpingwettlauf um die niedrigsten Standards führt, liegt auf der Hand.

Zwar ist es dank der massiven Proteste gelungen, die Bolkestein-Richtlinie ein wenig zu entschärfen, z. B. wurden Bereiche wie Gesundheit, Verkehr, Sicherheitsdienste und Zeitarbeitsagenturen von der Richtlinie ausgenommen (was jedoch nicht heißt, daß sie nicht über die Hintertür durch eigene Richtlinien gleichfalls liberalisiert werden). An der neoliberalen Ausrichtung der Dienstleistungsrichtlinie hat sich jedoch nichts geändert. Dabei läßt sich die Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 zu großen Teilen auf die wachsende Unzufriedenheit der Menschen mit der unsozialen Politik der Privatisierung und des Sozialkahlschlags zurückführen – von der Tendenz zur Aufrüstung der EU zu einer aggressiven Militärmaschine nach dem Vorbild der USA einmal ganz zu schweigen.

Die »Denkpause«, die sich Europa nach dem Scheitern der EU-Verfassung verordnet hatte, war selbstredend nicht dazu da, um über eine Kursänderung nachzudenken. Vielmehr waren die europäischen Eliten allein um die Frage besorgt, wie man die neoliberalen und militaristischen Inhalte des europäischen Verfassungsvertrags unter den veränderten Bedingungen »retten« und gegen alle Widerstände dennoch durchsetzen könne. Und in dieser Beziehung hat die deutsche EU-Präsidentschaft unter Führung von Karlspreisträgerin Frau Merkel Großes geleistet: Man nahm ein paar kosmetische Änderungen vor, verzichtete auf den Namen »Verfassung« und packte die Inhalte des alten Verfassungsvertrags in einen neuen Umschlag mit Namen »Reformvertrag«. Um auf Nummer sicher zu gehen, wurde auf Volksabstimmungen über diesen Reformvertrag kurzerhand verzichtet. Zwar findet im Juni noch ein Plebiszit in Irland statt – allerdings wurde schon angekündigt, daß man sich um eine mögliche Ablehnung des Vertrags nicht scheren wird. Im Zweifelsfall läßt man dann eben so lange bzw. so oft abstimmen, bis das Ergebnis paßt.

Bislang haben elf der 27 EU-Länder den Reformvertrag abschließend gebilligt. Am 24. April stimmte der Deutsche Bundestag dem Vertragswerk zu, das am 23. Mai noch den Bundesrat passieren muß. Einzig die Linkspartei hat sich im Bundestag geschlossen gegen die Annahme des Vertrags von Lissabon ausgesprochen. Man kann nur hoffen, daß sich diese klare Ablehnung auch im Stimmverhalten des »rot-rot« regierten Landes Berlin im Bundesrat widerspiegeln wird.

Kampf um ein anderes Europa

Spätestens seit der Niederlage des Sozialismusversuchs in Osteuropa folgt die Politik der EU-Kommission einem klar neoliberalen Kurs, der sich an den Interessen der europäischen Konzerne und Banken orientiert. Wie man anhand unzähliger Richtlinien und Vorstöße belegen kann, hat sich die EU zu einer treibenden Kraft bei der Durchsetzung von Privatisierungen und Sozial­abbau in den Mitgliedstaaten entwickelt. Eine Linke, die diese EU ablehnt, ist daher nicht »europafeindlich«. Ein linker, sozialer Anspruch erfordert vielmehr die entschiedene Gegnerschaft zu einem Europa, in dem soziale Rechte mit Füßen getreten werden, das immer ungehemmter Kriege zur Erschließung neuer Märkte und Rohstoffquellen führt und in dem eine intransparente und hierarchische Bürokratie, die aufs engste mit den Wirtschaftslobbys liiert ist, gegen die Interessen einer Bevölkerungsmehrheit regiert.

Die Auseinandersetzung um den Vertrag von Lissabon ist daher mit der Entscheidung des Bundestages nicht beendet. Denn ein Vertragswerk, in dem das Recht des Kapitals auf schrankenlose Ausbeutung höheres Gewicht hat als die Rechte von Beschäftigten und Gewerkschaften, kann keine Grundlage für ein soziales Europa sein. Der neoliberale Kurs der EU wird mit jedem Urteil des Europäischen Gerichtshofs aufs neue bestätigt. Mit Verweis auf die in den EU-Verträgen verankerte Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit werden durch den EuGH skrupellose Lohndumpingstrategien von Unternehmen in den Rang einer »Grundfreiheit« erhoben, während die Möglichkeiten zur Gegenwehr (sei es in Form von Streiks oder in Form von Vergabegesetzen) drastisch beschränkt bzw. für illegal erklärt werden.

Ein Europa der Konzerne, wie es der Reformvertrag vorsieht, widerspricht den Interessen und Erwartungen der meisten Menschen in Europa. Wer ein friedliches, soziales und demokratisches Europa will, muß sich also dafür einsetzen, daß die EU-Verträge vollständig revidiert werden. Zum Beispiel sollte Artikel 63 der Konsolidierten Fassung des Vertrags von Lissabon, der jegliche Kontrolle von Kapitalflüssen untersagt und damit die Gesellschaft den Profitinteressen des Finanzkapitals ausliefert, ersatzlos gestrichen werden. Ferner muß die in den Artikeln 49, 54 und 56 geregelte Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit beschränkt werden, damit diese »Freiheiten« nicht mehr als Begründung für europaweites Lohn- und Sozialdumping herhalten können. Und selbstverständlich müssen alle Artikel, die die EU zur Aufrüstung verpflichten oder den Einsatz von EU-Truppen im Ausland erlauben (Artikel 42 ff.) abgeschafft und durch ein unbedingtes Friedensgebot ersetzt werden.

Wer sich in dieser Richtung engagiert, wird sich wenig Hoffnung machen dürfen, gleich Frau Merkel für den europäischen Karlspreis vorgeschlagen zu werden. Aber er kann dazu beitragen, daß sich gegen den entfesselten Kapitalismus der heutigen EU mehr und mehr Protest und Widerstand regt. Letztlich ist das der einzige Weg, Europa zum Besseren zu verändern.


Sahra Wagenknecht ist für die Partei Die Linke im EU-Parlament. Sie ist dort Mitglied im Ausschuß für Wirtschaft und Währung (ECON)