Sahra Wagenknecht

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Artikel von Sahra Wagenknecht, erschienen im Wochenmagazin Focus am 18.04.2011

20.04.2011
Sahra Wagenknecht

Passt Goethe noch in unsere Zeit? Oder sollte man besser fragen: Passt unsere Zeit noch zu Goethe? Und, sofern man diese Frage verneinen muss: Spricht das gegen den großen Klassiker oder eher gegen uns?

Der hyperflexible Mensch des modernen Kapitalismus, der Tag für Tag im Dienste der Rendite schuftet, der sein Leben nicht mehr planen kann, weil er sich von einem befristeten Job zum nächsten hangelt, und der nach endlosen Überstunden zu müde ist, auch nur darüber nachzudenken, ob er wirklich so leben will, wie er lebt, ist sicher kein Wiedergänger des rastlos-ungesättigten Faust, der nach Wissen, Selbstbestätigung, Schönheit, Genuss und kreativer Tätigkeit hungert. Gleiches gilt für Millionen Menschen, die die heutige Gesellschaft gegen ihren Willen auf jenes Faulbett verbannt, auf das sich Faust nie legen mochte, und die sie dafür auch noch mit Armut und Häme straft.

Ihnen allen wird ein Lebensmodell aufgezwungen, das dem klassischen Humanismus ins Gesicht schlägt. Wer für solche Verhältnisse Verantwortung trägt oder sie widerspruchslos hinnimmt, sollte Goethe tatsächlich nicht für sich vereinnahmen. Dass die heutige Bürgerlichkeit mit "ihrem" Dichter kaum noch etwas anzufangen weiß, hat also Gründe.

Goethe ist ohne Zweifel einer der frühesten, feinsinnigsten und tiefgründigsten Kritiker, die der Kapitalismus je hatte. Er hat die existenzielle Bedrohung von Kultur, Zivilisation und Humanität in einer durchkommerzialisierten Gesellschaft geradezu prophetisch vorhergesehen. Ihm graute vor Verhältnissen, in 'denen sich alles rechnen' muss. Das hinderte ihn nicht, die gewaltigen produktiven Potenziale der neuen Ordnung anzuerkennen. Goethe war kein rückwärtsgewandter Verweigerer, sondern weitsichtig genug, über eine Moderne jenseits des Kapitalismus schon nachzudenken, als dieser sich gerade zu etablieren begann.

Im "Faust" bedroht der Kapitalismus die Fundamente des Alten Regime auf zwei verschiedenen Wegen: einmal destruktiv und einmal progressiv. Rein destruktiv wirkt das Papiergeld, mit dem Mephisto den Kaiser eines verrottenden Reichs beglückt und das dessen Niedergang beschleunigt, eben weil es nicht zu Investitionen genutzt, sondern zur Finanzierung des Luxuskonsums einer dekadenten Oberschicht verschleudert und folgerichtig nach kurzer Zeit inflationär entwertet wird.

Progressiv ist Faust, als er Eigentum erwirbt und dieses für produktive Zwecke einsetzt, nämlich zur Urbarmachung von Land unter Einsatz von Dampfkraft und moderner Technologie. Faust schafft als Großunternehmer gesellschaftlichen Reichtum - und wird dennoch und untrennbar davon zum Barbaren, weil sein Trieb zur Reichtumsvermehrung keine Grenze mehr kennt. Das gilt sowohl gegenüber seinen Arbeitern ("Menschenopfer mussten bluten") als auch gegenüber dem Idyll der beiden liebenswerten Alten Philemon und Baucis, für deren Ermordung Faust die Verantwortung trägt.

Kapitalismus, das hat Goethe vor Marx erkannt, ist eben nicht nur Marktwirtschaft, nicht nur Tausch, sondern immer auch Raub: "Krieg, Handel und Piraterie" sind für ihn "dreieinig" und "nicht zu trennen". Faust als Wirtschaftsmächtiger braucht nicht allein Mephisto, sondern auch die "drei gewaltigen Gesellen" Habebald, Haltefest und Eilebeute, die wesentlich zur Begründung seines Weltbesitzes beitragen. Das entwertet Fausts produktive Leistungen nicht, der technologische Fortschritt ist real, aber er hat einen hohen Preis.

Es kann keinen Zweifel geben, wie Goethes Urteil über einen Kapitalismus ausgefallen wäre, in dem diese produktive Seite mehr und mehr in den Hintergrund tritt und Renditejagd und Gier fast nur noch destruktiv wirken: Sei es, weil sie sich auf wirtschaftlich sinnlose Betätigungen in einer aufgeblasenen Finanzsphäre konzentrieren, sei es, weil sie Marktmacht zur Ausschaltung von echtem Leistungswettbewerb und technologischem Wandel nutzen, oder sei es, weil sie die Politik vom Minister bis zum Militär für ihre Ziele einspannen. Die Art, wie wir heute produzieren und zerstören, der dominante Gewinn aus Spekulation und Zockerei, aber auch aus Kriegen, Mord und Tod, die fortgesetzte Nutzung schädlicher oder sogar unverantwortlicher Technologien, die keineswegs alternativlos, aber für die Betreiber schlicht profitabler sind als andere all das lässt die Verhältnisse unserer Zeit auffällig jenem korrupt-desolaten Kaiserreich im ersten Akt des "Faust II" ähneln, in dem jeder gegen jeden kämpft, jeder jeden betrügt und Mephisto seinen Papiergeldzauber entfacht.

" ... es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolde hungerte", schrieb Goethe 1779 an Charlotte von Stein. Der König spricht am Ende in Jamben von höchster Schönheit - nicht als klassizistische Verklärung der Realität, sondern als Ausdruck von Hoffnung.

Vielleicht ist das Aktuellste an Goethe, dass er nie der selbstgefälligen Versuchung einer zynisch-pessimistischen Weltsicht erlag. Dass er an dem Anspruch und der Zuversicht festhielt, dass der Mensch sich nicht auf Dauer in einer Gesellschaft einrichten wird, die seine wertvollsten Eigenschaften - Liebesfähigkeit, Sehnsucht nach Würde und Schönheit - verkümmern lässt und die seine schlechtesten - Habsucht, Egoismus, soziale Ignoranz gnadenlos kultiviert.

Am Ende verliert der Menschenverächter Mephisto seine Wette, und im großartigen Finale des "Faust II" zieht uns das "Ewig-Weibliche" durch alle Abgründe hindurch "hinan". Wer Goethe liest, spürt, dass es nicht bleiben kann und nicht bleiben darf, wie es ist.