Sahra Wagenknecht

Eine EU der leeren Versprechungen - Die Linke zog 15 Jahre nach Maastricht auf einer Konferenz in Berlin ein kritisches Fazit

Artikel erschienen in "Neues Deutschland"

12.02.2007
Von Roland Etzel - 12.02.2007

Die Europäische Union beging am 7. Februar den 15. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht. Die Linke sieht allerdings überhaupt keinen Anlass zum Feiern. Im Gegenteil. Auf einer Konferenz am Sonnabend in Berlin zu »Armut und Reichtum in Europa« zogen Politiker, Gewerkschafter und Sozialwissenschaftler eine überaus kritische Bilanz der vergangenen 15 Jahre.

»Deutschland ist wie nie zuvor eine Steueroase für Reiche und Vermögende« resümierte Michael Schlecht (ver.di). Auf der anderen Seite, so der Gewerkschafter, gebe es hierzulande sieben Millionen Erwerbstätige im Niedriglohnbereich, Tendenz steigend. »Wir sind mittlerweile fast das einzige Land in Europa, das Niedriglöhne nicht reguliert.

Die derzeit von Regierungsseite viel gefeierten neuen Jobs entstehen zu 70 bis 80 Prozent im Sektor der Leiharbeit. Das betrifft in vielen Betrieben bereits ganze Unternehmensbereiche. Wir sind in der EU zum Lohndumping-Land Nummer 1 geworden.«

Bereits in ihren Einführungsworten hatte Sahra Wagenknecht, für die Linkspartei Mitglied im Europäischen Parlament und Initiatorin Tagung im Berliner Europa-Haus Unter den Linden, darauf verwiesen, dass sich die mit Maastricht versprochenen Segnungen der Europäischen Gemeinschaft, die sich seitdem Union nennt, als leere Versprechungen entpuppten – jedenfalls für die Arbeitnehmer der Mitgliedsländer. Die EU, so habe es damals geheißen, werde mit der Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion zu mehr Wachstum und Beschäftigung kommen. Gegeben habe es allenfalls Wachstum für die großen Unternehmen in der Union. Einige hätten sich zu Global Players entwickelt, verbunden mit einem explosionsartigen Anstieg der Gewinn- und Vermögenseinkommen. Dagegen habe der Druck auf Löhne und Gehälter kontinuierlich zugenommen. Nicht weniger, sondern weit mehr Menschen seien von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Der Soziologe Professor Christoph Butterwegge wartete zum Beweis dessen vor allem mit Zahlen auf, wie hierzulande die Schwächsten der Gesellschaft, die Kinder, unter dieser Entwicklung zu leiden hätten. Nach seinen Berechnungen leben derzeit 1,89 Millionen Kinder in von Hartz IV betroffenen Familien. »Nimmt man noch jene Kinder hinzu, die in bestimmten Lebensbereichen von der sozialen Teilhabe allein aufgrund mangelnder Finanzkraft ihrer Eltern ausgeschlossen sind, kommt man auf 3 bis 3,5 Millionen Kinder. Auf der anderen Seite verfügen allein die Gebrüder Karl und Theo Albrecht, Eigentümer von Aldi Nord und Aldi Süd, gemeinsam über ein Privatvermögen von 30,7 Milliarden Euro.«

Dass sich dies keineswegs mit dem Hinweis auf eine quasi naturgesetzgleich obwaltende Globalisierung erklären lasse, betonte Oskar Lafontaine. »Der Schlüssel für diese Entwicklung«, so der Kovorsitzende der Linksparteifraktion im Bundestag, »ist die viel zu niedrige Steuer- und Abgabenquote in Deutschland.« »Würden die Unternehmen wenigstens so besteuert wie im EU-Durchschnitt«, sagte Lafontaine, »hätte der Staat 130 Milliarden € mehr in der Kasse.«Aufklärung dazu und eine möglichst gemeinsame Gegenstrategie von Linken, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sind notwendiger denn je.

Darüber waren sich die Diskutanten einig. Lafontaine forderte vor allem den Kampf um mehr direkte Demokratie wie Volksentscheide, »und wir brauchen das Mittel des politischen Streiks« – gegen Lohndumping, gegen das permanente Herunterdrücken sozialer Standards in der EU, gegen den Privatisierungswahn.

Hier, betonte Lafontaine weiter, müsse die Linke vorangehen, auch – so sein Seitenblick auf jüngst heiß diskutierte, weil mit dem Segen der Linkspartei erfolgte Privatisierungen in Berlin und Dresden – um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. »Eine Linke ist dann keine Linke mehr, wenn sie keine Vision von einer anderen Gesellschaft hat.«