Bericht über die Lage der europäischen Wirtschaft
Rede von Sahra Wagenknecht in der Plenardebatte des Europäischen Parlaments am 22.02.2005
Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen,
natürlich kann man in Fragen europäischer Wirtschaftspolitik so weiter machen wie bisher.
Man kann fortfahren, unter dem Vorwand angeblich notwendiger Strukturreformen" die europäischen Sozialsysteme zu zerschlagen.
Man kann fortfahren, die Gewerkschaften mit der Keule hoher Arbeitslosigkeit und expandiererder Billigjobs in die Knie zu zwingen.
Man kann mehr und mehr öffentliche Dienste dem Markt überantworten und die angebotenen Leistungen damit auf das begrenzen, was sich privatwirtschaftlich rentiert.
Man kann durch neue Runden im Steuerdumping-Wettlauf sicher stellen, dass ein abhängig beschäftigter Mittelverdiener bald mehr zu den öffentlichen Einnahmen beiträgt als mancher europäische Konzern mit Milliardenprofiten.
Das alles kann man weiterhin tun und sich dabei des Beifalls derer sicher sein, die von dieser Art Politik profitieren.
Nur eines sollte man nicht: den Europäern auch noch vorgaukeln, diese Politik diene Wachstum und Beschäftigung.
Wer kann im Ernst glauben, dass eine Verlängerung der Arbeitszeit zusätzliche Arbeitsplätze schafft, statt weitere zu vernichten?
Wer kann im Ernst glauben, dass fortgesetzte Kürzungen bei öffentlichen Investitionen die Binnennachfrage beleben, statt weitere kleine und mittlere Unternehmen in die Pleite zu treiben?
Wer kann nach den bisherigen Privatisierungserfahrungen noch glauben, dass durch Privatisierung die Beschäftigung steigt statt fällt?
Es ist richtig, dass die Wirtschaftsdaten der meisten europäischen Länder mager sind. Aber es ist eine Lüge, dass die Ursache dafür in mangelnder Wettbewerbsfähigkeit liegt.
In vielen europäischen Ländern sind die Arbeitskosten in den zurückliegenden Jahren gesunken. Besonders radikal etwa in Deutschland, wo die Arbeitnehmer im letzten Jahr eine Reallohnsenkung von über 2% hinnehmen mussten. Sind deshalb in Deutschland besonders viele Arbeitsplätze entstanden? Ganz im Gegenteil, die Arbeitslosenquote hat einen neuen Rekord erreicht.
Die Exporte allerdings auch, und das gilt nicht nur für Deutschland.
Angesichts beträchtlicher Aussenhandelsüberschüsse ist zu fragen, wie wettbewerbsfähig soll Europa denn noch werden?
Das einzige, was politische Prioritäten, wie sie im vorliegenden Bericht formuliert sind, erreichen können, ist eine weitere Steigerung der Kapitalrendite europäischer Global Player.
Das mag dem European Roundtable of Industrialists gefallen. Für die Mehrzahl der Menschen dagegen ist es ein Desaster. Wir werden einer derartigen Politik niemals zustimmen, sondern alles dafür tun, dass sich wachsender Widerstand gegen sie entwickelt.