Sahra Wagenknecht

"Der Staat hat die Kontrolle verloren“

Kommentar von Sahra Wagenknecht, erschienen im Tagesspiegel am 20.01.2016

20.01.2016

Die Ereignisse in Köln sind für den Kontrollverlust des Staates symptomatisch. Dazu kam, dass diese Schwäche offensichtlich noch durch die Verbreitung von Falschinformationen am Neujahrstag durch die Polizei kaschiert werden sollte. Nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das hat zusätzlich Vertrauen zerstört. Ein solches Verhalten von Behörden ist einer Demokratie unwürdig. Die Unfähigkeit des Staates, den Rechtsstaat durchzusetzen und den Sozialstaat zu erhalten, ist nicht vom Himmel gefallen. Jahrelang wurden durch die Steuerpolitik die Reichen zulasten der Zukunftsfähigkeit des ganzen Landes gemästet. Statt eine Vermögenssteuer für Millionäre einzuführen, wurde lieber bei Bildung, Polizei oder Rente gespart. So kann eine Gesellschaft eine historische Flüchtlingskrise auf Dauer nicht bewältigen. Trotzdem macht die Bundesregierung mit ihrer falschen Politik weiter. Sie lässt Städte und Gemeinden mit den Problemen weitgehend allein. Da die Länder keine zusätzlichen Steuern bei den Reichen erheben können, müssen sie die Kosten der Flüchtlingskrise durch Kürzungen an anderer Stelle finanzieren. Das vergiftet das politische Klima und trifft letztlich die Ärmeren, die schon seit Jahren von der Politik im Stich gelassen wurden. Schäubles Vorschlag eines Benzin-Soli für Flüchtlinge war ein politischer Amoklauf, der das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung nicht erhöht hat.

Die europäische Solidarität, die von der Bundesregierung in der Flüchtlingskrise eingefordert wird, wird von ihr in der Euro-Krise mit Füßen getreten. Eine europäische Lösung ist daher nicht in Sicht. Merkels Versuch, die Flüchtlingszahlen durch die Schließung der EU-Außengrenze auf die türkische Regierung abzuwälzen, die selbst Krieg im Osten der Türkei gegen die eigene Bevölkerung führt, funktioniert ebenfalls nicht und ist außerdem eine moralische Bankrotterklärung. Beendet wird das Staatsversagen erst durch eine steuerpolitische und sozialpolitische Wende, die den Staat dazu in die Lage versetzt, den Rechts- und Sozialstaat für alle hier lebenden Menschen wiederherzustellen, sowie durch eine Rückkehr zu einer friedlichen Außenpolitik in der Tradition Willy Brandts, die statt auf Krieg auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in den Krisengebieten setzt.