„Lasst uns die Grabenkämpfe beenden“
Rede von Sahra Wagenknecht auf dem Parteitag der LINKEN am 10.06.2018
Rede der Fraktionsvorsitzenden, Sahra Wagenknecht, auf der 1. Tagung des 6. Bundesparteitages der Partei DIE LINKE. am 10.06.2018 in Leipzig
- Es gilt das gesprochene Wort –
Liebe Genossinnen und Genossen, Parteitage sind dazu da, um über die Arbeit der Vergangenheit zu sprechen und sich über die Aufgaben der Zukunft zu verständigen. Wir haben bei der Bundestagswahl eine halbe Million Stimmen dazugewonnen. Und ich finde, das war unter den gegebenen Bedingungen überhaupt nicht selbstverständlich. Deswegen möchte ich mich als allererstes bei allen Mitgliedern, bei euch allen dafür bedanken, dass ihr so engagiert, so aktiv zu diesem Wahlkampf beigetragen habt. Nur dank euch haben wir dieses gute Ergebnis bekommen. Und ich denke, das war wichtig und das war toll.
Das Wahlergebnis formuliert aber auch unsere wichtigste Aufgabe für die Zukunft. Mit der AfD ist eine rechtsnationale, in Teilen faschistische Partei ins Parlament eingezogen, die inzwischen offensiv daran arbeitet, die deutsche Geschichte umzuschreiben, die Verbrechen der Hitler-Diktatur zu relativieren und der es immer besser gelingt, die Themen der gesellschaftlichen Debatte zu bestimmen. Und ich finde, hier zeigt sich die wichtigste Aufgabe linker Parteien: Wir müssen den Vormarsch der Rechten stoppen, und wir müssen die Demokratie gegen einen entfesselten Kapitalismus und einen zunehmenden Autoritarismus verteidigen. Das ist doch unsere zentrale Aufgabe, und wir sollten darüber reden, wie wir das am besten schaffen.
Und wir müssen – denke ich – auch immer wieder darauf hinweisen, dass das zwei Seiten einer Medaille sind. Die AfD ist doch nicht das Gegenprogramm zu Merkel. Die AfD ist doch das Produkt von Merkel. Sie ist doch das Produkt von Merkels marktkonformer Demokratie, wo die Konzerne den Kurs bestimmen und wo die große Mehrheit keine Stimme mehr hat.
Und auch die Verrohung von Sprache und Denken, die sich in den Hasskommentaren bei Facebook austobt und über die sich die neoliberalen Eliten so gern in vornehmem Abscheu erheben. Diese Verrohung von Sprache und Denken, das ist doch das Ergebnis der Verrohung der sozialen Verhältnisse, die genau diese neoliberalen Eliten herbeigeführt haben. Das ist doch das Produkt ihrer Politik.
Und ich denke, Didier Eribon hat recht, wenn er darauf hinweist, dass das Wort Ungleichheit eine Beschönigung ist und dass wir es in Wahrheit mit nackter, ausbeuterischer Gewalt zu tun haben. Und diese Gewalt, die wird Millionen Menschen in diesem Land tagtäglich angetan. Sie wird ihnen angetan in Unternehmen, wo der Renditedruck inzwischen so groß ist, dass immer mehr Mittel genutzt werden, um Lohndumping zu betreiben, über Outsourcing, über Leiharbeit, über Befristungen. Es wird doch alles genutzt, wenn es darum geht, Löhne nach unten zu drücken.
Viele Menschen können von ihrem Job nur noch so schlecht leben, dass sie einen zweiten brauchen. Und wer nicht topfit und gesund ist, der hat auf diesem Arbeitsmarkt faktisch keine Chance mehr. Das gilt nicht nur für die Deutsche Post. Das sind doch unerträgliche Zustände. Das sind Zustände, die krankmachen, und gegen die müssen wir uns erheben. Dafür werden wir gebraucht, und dafür sind wir da! Und wenn diese Menschen, denen die Politik der letzten Jahre jede Chance auf ein planbares Leben genommen hat, wenn sie sich nach Sicherheit sehnen, nach Stabilität und nach Schutz, dann – meine ich – müssen sie spüren, dass wir an ihrer Seite stehen. Wir sind doch gegründet worden, um uns für die einzusetzen, für die sonst niemand kämpft und die keine laute Stimme haben.
Und ich finde, wenn wir das als unsere Aufgabe annehmen, dann können wir nicht damit zufrieden sein, wo wir heute stehen. Natürlich freuen wir uns, wenn wir in den Uni-Städten, wenn wir in den angesagten Vierteln gute Ergebnisse erreichen. Ich finde es jedes Mal spannend, wenn ich in den Hörsälen von Universitäten mit tausend Studenten diskutieren kann. Und ich freue mich über das Interesse, das man dort erlebt. Das ist großartig, dass es dieses Interesse gibt. Aber wenn wir gleichzeitig im Ruhrgebiet oder in den abgehengten Regionen des Ostens – das waren ja mal unsere Hochburgen –, wenn wir dort an Rückhalt verlieren, und wenn ausgerechnet die, deren Leben von der Agenda 2010 am schlimmsten verwüstet wurde, uns immer seltener ihre Stimme geben, wenn inzwischen mehr Gewerkschafter AfD wählen als uns, wenn mehr Arbeitslose und Arbeiter AfD wählen als uns, dann – finde ich – können wir uns nicht zurücklehnen und zur Tagesordnung übergehen.
Und ich finde, es zeugt nicht von einer guten Diskussionskultur, wenn auf das Ansprechen solcher Probleme mit dem Vorwurf reagiert wird, da würde jemand DIE LINKE schlechtreden oder unsere Erfolge schmälern. Es geht doch nicht darum, unsere Erfolge zu schmälern. Es geht darum, dass wir gemeinsam darüber nachdenken, wie wir die Menschen zurückgewinnen, die wir in den letzten Jahren verloren haben. Das ist doch das Thema! Darum geht es doch!
Und ich meine, das wird uns nur gelingen, wenn wir ihre Sprache sprechen, wenn sie spüren, dass wir ihre Probleme, ihre Ängste, ihre Lebensrealität kennen und dass wir ihnen mit Respekt begegnen und nicht von oben herab. Und nur wenn uns das gelingt, wenn wir die Ärmeren, die Abstiegsgefährdeten, wenn wir sie wieder erreichen, nur dann können wir doch auch darin erfolgreich sein, uns dem Rechtsruck entgegenzustellen. Nur dann schaffen wir doch, was unsere wichtige Aufgabe ist. Dafür brauchen wir doch diesen Rückhalt. Dafür müssen wir uns um diese Menschen bemühen, statt sie abzuhaken oder abzuschreiben. Nein: Die Ärmeren, die Abstiegsgefährdeten haben doch die gleichen Interessen, für die wir kämpfen. Deswegen werden wir sie gewinnen und können wir sie gewinnen. Das ist unsere Aufgabe!
Und dabei ist die Rechtsentwicklung auch nicht die einzige Herausforderung. Wir leben in einer Zeit wachsender Kriegsgefahr. Vor allem die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den Atommächten wächst. Die Dreistigkeit, mit der die USA den Nahen Osten weiter destabilisiert und die Offenheit, mit der ein Krieg gegen den Iran vorbereitet wird, die sind doch erschreckend. Aber bei aller Empörung über Trumps Rüpeleien und Trumps Lügen, zur Wahrheit gehört eben auch: Internationale Verträge werden nicht erst seit Donald Trump gebrochen. Und das Völkerrecht wird auch nicht erst seit Donald Trump mit Füßen getreten, sondern das war schon vorher so.
Das Völkerrecht wird doch überall mit Füßen getreten, wo große Militärmächte sich anmaßen, Länder, deren Regierungen ihnen nicht passen oder die ihnen ihre Rohstoffe nicht zu den gewünschten Konditionen zur Verfügung stellen, militärisch zu verwüsten. Und das Völkerrecht wird auch überall mit Füßen getreten, wo islamistische Terrorbanden aufgerüstet werden, um unliebsame Regime zu destabilisieren oder wo Drohnen eingesetzt werden, um willkürliche Morde per Fernsteuerung zu exekutieren. Bei all diesen Verbrechen wird das Völkerrecht gebrochen. Ich finde, statt mit fadenscheinigen Hinweisen auf die Krim Russlands Wiederaufnahme in die G8 zu hintertreiben, sollte sich Merkel lieber darum kümmern, dass das Völkerrecht wieder Grundlage der deutschen Außenpolitik wird. Nur was man selbst achtet, dessen Achtung kann man auch von den Anderen verlangen.
Aber stattdessen ist der Umgang mit Russland an Heuchelei nicht zu überbieten. Da werden Anfang des Jahres vier Diplomaten ausgewiesen, weil in Großbritannien ein Mordanschlag mit einem Gift vorgenommen wurde, über das – wie wir heute wissen – alle großen Geheimdienste dieser Welt verfügen, einschließlich des BND. Aber wenn der US-Botschafter sich wie ein neuer Kolonialherr aufführt und offen ankündigt, dass er in Europa die Rechte an die Macht bringen will, da wird er von Herrn Maas zum Kaffeeplausch eingeladen, statt ihm ein Rückflugticket nach Washington zu überreichen. Das wäre doch eher die angemessenere Reaktion gewesen!
Aber diese ganze Politik ist nicht nur zutiefst unehrlich. Sie ist vor allem extrem gefährlich. Heute stehen deutsche Truppen an der russischen Grenze. Es werden immer wieder martialische Manöver in Osteuropa abgehalten. Die NATO gibt jetzt schon 900 Milliarden Dollar – die Zahl ist mehrfach genannt worden – jedes Jahr für Rüstung aus. Und obwohl im Vergleich dazu Russland mit 66 Milliarden dasteht, wird weitere Aufrüstung gefordert, wird weitere Aufrüstung vorangetrieben. Die Große Koalition macht munter mit, allen Versprechen der SPD zum Trotz. Und ich finde, dieser Rüstungswahnsinn ist doch auch ein Sinnbild für unsere kranke Welt. Da werden Jahr für Jahr 900 Milliarden Dollar für Mordwerkzeuge ausgegeben. Ein Zehntel davon würde ausreichen, damit auf diesem Planeten kein Kind mehr verhungern müsste oder an Armutskrankheiten sterben müsste. Dass das nicht möglich ist, das zeigt doch, wie krank diese Welt ist!
Wir wissen, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen. Und es zeigt sich immer deutlicher: Wer Kriege überwinden will, Ja, der muss eine Wirtschaftsordnung überwinden, in der der Profit das Maß aller Dinge ist und wo die schlimmsten Verbrechen begangen werden, wenn sich damit Profite machen lassen. Der Papst hat doch recht: Diese Wirtschaft tötet! Wir sind die einzige Partei, die den Zusammenhang von Wirtschaftsordnung und Rohstoffkriegen offenlegt. Wir sind die einzige Antikriegspartei im Deutschen Bundestag. Ich finde, darauf sollten wir auch unverändert stolz sein!
Und die Vorbereitung jedes Krieges beginnt mit Waffenlieferungen. Seit Jahren dealen SPD und CDU mit den Rüstungslobbyisten, und sie liefern ihnen die Waffen, den Erdogans und den Saudis, damit sie ihre blutigen Kriege in Syrien oder auch im Jemen führen können. Insoweit ist es eben auch wichtig: Dieses Verbrechen muss aufhören! Ich bin froh, dass es mit der LINKEN wenigstens eine Partei gibt, die sich nicht von den Rüstungslobbyisten schmieren lässt so wie Kauder und Co. Nein, das muss endlich zu Ende sein!
Liebe Genossinnen und Genossen, wir sind uns auch einig, dass Kriege eine Hauptursache weltweiter Fluchtbewegungen sind. Und wir sind uns einig, dass Verfolgte Asyl erhalten müssen. Ich bin stolz darauf, dass die Bundestagsfraktion gegen jede Verschärfung des Asylrechts gestimmt hat, und das wird auch so bleiben. Ich finde, das zeigt doch, wo wir in dieser Frage stehen.
Und wir sind uns ebenfalls einig, dass Kriegsflüchtlingen geholfen werden muss. Es gibt niemanden in der LINKEN, der das infrage stellt. Und ich finde, es zeugt nicht von gutem Stil, wenn immer so getan wird als sei das anders. Nein, das ist nicht anders.
Worüber wir diskutieren, ist, ob eine Welt ohne Grenzen unter kapitalistischen Bedingungen wirklich eine linke Forderung sein kann. Selbst da gibt es Einiges, was eigentlich gar nicht umstritten ist. Wir verteidigen das Recht armer Länder, ihre Märkte, ihre Wirtschaft mit Zöllen gegen unsere Agrarexporte zu verteidigen und zu schützen. Das heißt eben aber auch, dem freien Warenverkehr Grenzen zu setzen. Wir fordern Kapitalverkehrskontrollen, um zu verhindern, dass Finanzspekulanten über Währungen, Zinsen und das Schicksal ganzer Volkswirtschaften entscheiden. Also auch dem freien Kapitalverkehr wollen wir natürlich Grenzen setzen.
Ja, viele von uns sind vermutlich der Meinung, dass es unverantwortlich ist, armen Ländern ihre qualifizierten Fachkräfte abzuwerben, weil das Armut und Elend vor Ort nur weiter vergrößert. Ja, wir streiten über die Frage, ob es für Arbeitsmigration Grenzen geben sollte und wenn ja, wo sie liegen. Aber warum können wir das nicht sachlich tun, ohne Diffamierungen?
Auch der linke Bernie Sanders hat zu diesem Thema eine sehr pointierte Meinung. Ich zitiere Bernie Sanders: „Offene Grenzen. Nein. Das ist ein Vorschlag der Koch-Brüder.“ Das sind Großindustrielle mit 40 Milliarden Vermögen. Ich zitiere Bernie Sanders weiter: „Was die Rechte in diesem Land liebt, ist doch eine Politik der offenen Grenzen. Bring jede Menge Leute, die für zwei oder drei Dollar die Stunde arbeiten. Das wäre toll für die. Daran glaube ich nicht. Ich glaube, wir müssen mit dem Rest der Industrieländer zusammenarbeiten, um die weltweite Armut anzugehen. Aber das gelingt nicht, indem wir die Menschen in diesem Land ärmer machen.“ Soweit Bernie Sanders. Und wenn Jeremy Corbyn sich zu diesem Thema äußert, dann klingt das ähnlich. Man muss diese Meinung nicht teilen, aber deshalb sind Bernie Sanders und Jeremy Corbyn noch lange keine Leute, die den Rechten hinterherlaufen und ihre Argumente übernehmen. Was ist denn das für eine Unkultur der Debatte!
Ich erwarte auch nicht, dass alle meine Meinung teilen. Natürlich nicht. Aber was ich erwarte, ist eine solidarische Diskussion. Und wenn mir und anderen Genossinnen und Genossen aus den eigenen Reihen Nationalismus, Rassismus und AfD-Nähe vorgeworfen wird oder wenn unterstellt wird, wir würden vor dem rechten Zeitgeist einknicken, dann ist das das Gegenteil einer solidarischen Debatte!
Ich meine, von AfD light war die Rede, Übernahme von AfD-Positionen. Man muss sich doch mal darüber im Klaren sein, was man damit eigentlich sagt: Damit rückt man Genossinnen und Genossen unserer Partei in die Nähe eines Alexander Gauland, der das verbrecherische Naziregime als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ bezeichnet hat. Ich finde das infam, und ich finde, das dürfen wir nicht machen. Deswegen meine ich, wir sollten diese absurden Debatten beenden und lieber gemeinsam darum kämpfen, dass Gaulands AfD zu einem Vogelschiss in der deutschen Geschichte wird, nämlich dass Gaulands AfD in zehn Jahren vergessen sein wird. Das ist doch unser Job, statt uns hier zu zerlegen und solche Kämpfe zu führen!
Und einen letzten Punkt möchte ich ganz kurz noch ansprechen: Ich möchte noch etwas zu dem Projekt einer überparteilichen linken Sammlungsbewegung sagen, weil ich finde, dass auch hier teilweise seltsame Debatten geführt werden.
Liebe Genossinnen und Genossen, es geht doch nicht um ein Alternativprojekt zur LINKEN, das uns schwächen soll, sondern es geht darum, dass wir breiter und stärker werden, wenn wir die Politik in diesem Land verändern wollen. Das ist doch das Anliegen, und das ist doch der Hintergrund. Es kann uns doch nicht genügen, wenn wir bei der nächsten Bundestagswahl – auch wenn das schön ist – ein oder zwei Prozent mehr haben. Darum kämpfen wir alle. Darum kämpfen wir. Ja, da will ich mit euch gemeinsam darum kämpfen – vielleicht noch fünf Prozent mehr und dann bei der nächsten Wahl nochmal zwei Prozent. Aber damit sind wir immer noch von gesellschaftlichen, von politischen Mehrheiten weit entfernt. Ich finde, wir müssen dieses Problem angehen. Wir müssen auch sehen: Die SPD hat in den letzten Jahren über zehn Millionen Wähler und Hunderttausende Mitglieder verloren. Wir müssen uns doch fragen, warum so wenige von denen bei uns angekommen sind. Das hätte ich mir doch auch anders gewünscht. Aber das ist die Realität. Deswegen müssen wir darüber nachdenken, ob es nicht Wege gibt, über ein breiteres Bündnis diese Menschen wieder zu erreichen, all die zusammenzuführen, die für höhere Löhne, für bessere Renten und für Friedenspolitik streiten wollen.
Wir sind doch nicht für uns selbst da. Wir wollen doch dieses Land verändern. Und ich bin überzeugt, wir können dieses Land verändern. Deshalb lasst uns die Grabenkämpfe beenden! Lasst uns gemeinsam daran arbeiten, die Verhältnisse zu überwinden, die tagtäglich die Wut und den Hass produzieren, die den brauen Schoß wieder fruchtbar gemacht haben. Kämpfen wir um dieses Land, statt es den Gaulands und den Höckes zu überlassen! Darum möchte ich mit euch gemeinsam kämpfen. Das ist doch unsere Aufgabe. Nehmen wir sie an, und dann werden wir auch erfolgreich sein!
Vielen Dank!