„Bisher hat der Kapitalismus all seine Krisen überlebt“
Sahra Wagenknecht im Interview mit Capital
Der Kapitalismus hat seine beste Zeit hinter sich, meint Sahra Wagenknecht. Die Linken-Politikerin will zurück zu einer fairen Marktwirtschaft, die allen nutzt – natürlich mit einem starken Staat.
Frau Wagenknecht, die Bundesregierung hat binnen kurzer Zeit riesige Rettungspakete auf den Weg gebracht, theoretische Summen von bis zu einer Billion Euro stehen im Raum. Wie beurteilen Sie diese Gegenmaßnahmen?
SAHRA WAGENKNECHT: Wenn man nicht will, dass massenhaft Unternehmen pleitegehen, muss man mit Steuergeld Unterstützung leisten. Das war also richtig. Allerdings sehe ich eine deutliche Schieflage zugunsten großer Unternehmen und von Unternehmen, die nicht ganz unverschuldet in diese Situation geraten sind. Wenn man wie Adidas seit 2018 über 2 Mrd. Euro ausgegeben hat, um eigene Aktien zurückzukaufen, selbst Anfang 2020 noch, und wenige Wochen später einen staatlichen Hilfskredit über 2,4 Mrd. Euro beantragt, passt das nicht zusammen.
Gilt das auch für die Lufthansa?
Natürlich sollte man die zentrale Airline des Landes nicht pleitegehen lassen. Aber auch die Lufthansa hatte eine klare Unternehmensstrategie, große Teile ihres Gewinns an die Aktionäre auszuschütten, statt sie im Konzern zu behalten. Es darf diesmal nicht so laufen wie in der Bankenkrise: Wenn es Probleme gibt, greift man dem Steuerzahler in die Tasche – und sobald es wieder Gewinne gibt, fließen sie an die Aktionäre.
Frau Wagenknecht, das Besondere an dieser Krise ist ja, dass sie anders als frühere Krisen nicht in der Wirtschaft selbst entstanden ist. Wird sie trotzdem zu einer Krise des Kapitalismus – oder wird der Kapitalismus auch die Krise überwinden?
Na ja, bisher hat der Kapitalismus all seine Krisen überlebt…
Was ja nicht unbedingt gegen ihn spricht.
Aber was meinen wir denn, wenn wir über Kapitalismus reden? Dass wesentliche Teile unseres Wirtschaftslebens über Märkte und im Wettbewerb abgewickelt werden, ist sicherlich kein Nachteil, das hat sich bewährt. Die Frage ist, ob der Kapitalismus, so wie er heute funktioniert, überhaupt noch als faire Marktwirtschaft beschrieben werden kann: Denken Sie nur an die wachsende Macht der Digitalkonzerne. Hier wetteifern nicht konkurrierende Anbieter auf offenen Märkten, sondern globale Monopolisten beherrschen Schlüsselbereiche der digitalen Infrastruktur und bringen die eigentlichen Produzenten in zunehmende Abhängigkeit. Das ist keine Entwicklung, die Innovation und Produktivität fördert. Auch geben die Nationalstaaten mit ihren Steuer- oder Umweltgesetzen nicht mehr den Rahmen für alle Unternehmen vor – große Konzerne können sich diesem Rahmen leicht entziehen, indem sie Gewinne oder Teile der Produktion verlagern. Sie sind daher in einer ganz anderen Marktposition als kleinere Anbieter.
Das ist eine Debatte, die schon vor Corona begonnen hat: Viele Menschen profitieren nicht mehr von Wachstum wie in der Vergangenheit. Wird der Streit sich verschärfen?
Zunächst muss man feststellen, dass der Kapitalismus seine beste Zeit hatte, als er staatlich stark reguliert und gebändigt wurde: in den 1950er- bis 1980er-Jahren. Damals stieg in der westlichen Welt der Wohlstand für nahezu alle, es entstand eine breite Mittelschicht. Aber das ist Vergangenheit. Heute schrumpft in allen entwickelten Ländern die Mittelschicht, viele Menschen haben Abstiegsängste und der Niedriglohnsektor ist massiv gewachsen. Deswegen haben wir nicht nur wirtschaftliche Probleme, sondern auch eine Demokratiekrise.
Haben wir jetzt eine Chance zur Erneuerung, oder werden sich diese Fehlentwicklungen eher vergrößern?
Das ist offen. Wenn wir ein Massensterben von kleinen und mittleren Unternehmen zulassen, verschärft sich die soziale Polarisierung und die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft wird weiter abnehmen. Ich hoffe natürlich, dass wir die Fehlentwicklungen korrigieren, die sich jetzt in der Krise in besonderer Weise gerächt haben. Wir haben gerade erlebt, wie wichtig ein handlungsfähiger Staat ist.