“Nicht alle Demonstranten als Verschwörungstheoretiker beschimpfen”
Sahra Wagenknecht im Interview mit dem RND
Die Bundestagsabgeordnete der Linken und ehemalige Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht hält die Corona-Beschränkungen von Bund und Ländern im Prinzip für richtig. Aber sie kritisiert die wirtschaftlichen Hilfen als unausgewogen. Außerdem meldet Wagenknecht Zweifel an der Unabhängigkeit der Wissenschaft an.
Frau Wagenknecht, am Wochenende haben wieder bundesweit Proteste gegen die Corona-Beschränkungen stattgefunden. Können Sie diese Proteste nachvollziehen?
Die Proteste sind ja sehr unterschiedlich. Da muss man differenzieren und darf nicht pauschal alle Demonstranten in die Nazi-Ecke stellen oder als Verschwörungstheoretiker beschimpfen. Denn leider gibt es allen Grund, unzufrieden zu sein mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung.
Warum?
Die Rettungspakete sind sozial sehr unausgewogen. Viele Soloselbständige und Freiberufler bekommen gar nichts, während große Unternehmen teilweise immense Summen erhalten, darunter solche, die das Geld gar nicht brauchen. So bekommen die Autokonzerne Kurzarbeitergeld, das – wie in der letzten Krise – letztlich aus Steuermitteln bezahlt werden muss. Zugleich sitzt zum Beispiel BMW auf Cashreserven von mindestens zwölf Milliarden Euro und hat gerade eine üppige Dividende ausgeschüttet. Die Hälfte, 770 Millionen Euro, ging an nur zwei Personen, Stefan Quandt und Susanne Klatten. Unternehmen mit Milliardenreserven, die Dividenden ausschütten, könnten auch das Kurzarbeitergeld für ihre Beschäftigten problemlos selbst bezahlen.
Was würden Sie anders machen, ganz konkret?
Man hätte allen Bürgern – egal ob Selbstständiger, Freiberufler, abhängig Beschäftigter oder Minijobber – direkt am Anfang der Krise eine Einkommensgarantie geben müssen, ihnen also das weggefallende Einkommen komplett ersetzen sollen – bis maximal zur Höhe des Durchschnittseinkommens. Dann hätten jetzt nicht Millionen Menschen Existenzängste. Unter den zehn Millionen Kurzarbeitern gibt es viele, die vorher schon niedrige Löhne hatten, etwa in der Gastwirtschaft, sie können von 60 Prozent des Lohns nicht leben. Das wiederum erschwert es zusätzlich, die Wirtschaft jetzt wieder hochzufahren. Die Leute geben ja zurzeit weniger Geld aus, weil sie immer noch Angst und teilweise höhere Schulden haben.
Was hätten Sie noch anders gemacht?
Bei der Lufthansa finde ich es zwar richtig, dass man die Übernahme durch einen ausländischen Wettbewerber oder eine Pleite verhindert hat. Aber dann muss der Staat doch wenigstens Mitspracherechte haben, Arbeitsplätze und faire Löhne garantieren und verhindern, dass Gewinne weiterhin in Steueroasen fließen, wie das in den letzten Jahren der Fall war. Wer neun Milliarden Euro in ein Unternehmen pumpt, das an der Börse gerade mal vier Milliarden wert ist, und sich dann mit 20 Prozent der Anteile begnügt, rettet vor allem die alten Aktionäre, während der Steuerzahler wieder der Dumme ist.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) will nun Familien für jedes Kind pauschal 300 Euro zahlen. Was halten Sie davon?
Das ist sinnvoll. Denn es hilft Familien mit Kindern, die wegen der Schließung von Schulen und Kitas besonders große Lasten tragen. Leider ist es allerdings nicht so viel Geld, dass jemand, der in den letzten Monaten viel Einkommen verloren hat, dadurch wirklich bessergestellt wäre. Und natürlich profitieren auch Wohlhabende, die womöglich gar keine Einbußen hatten.
Vorausgesetzt, Sie hätten recht mit all dem, was Sie sagen: Müssten Sie im Gegenzug nicht auch einräumen, dass sich der deutsche Staat gerade als sehr leistungsfähig erweist – dass er also ein millionenfaches Kurzarbeitergeld zahlt, das es in anderen Ländern gar nicht gibt, und dass er auch das Geld dazu hat, unter anderem wegen der Schuldenbremse und des zurückliegenden Sparkurses?
Der Staat hat das Geld nicht wegen der Schuldenbremse, sondern weil in den letzten Jahren die Wirtschaft brummte und die Steuereinnahmen hoch waren – das alles bei Minuszinsen. Das ist eine andere Situation als in den meisten europäischen Ländern. Und wir hatten in Bezug auf Corona auch Glück.
Inwiefern?
Als in Italien und Spanien die Situation eskalierte, war das Infektionsgeschehen bei uns noch relativ moderat. Dadurch konnten wir gerade noch rechtzeitig Maßnahmen einleiten, um Schlimmeres zu verhindern. Unser Gesundheitswesen ist natürlich besser als das italienische, aber auch wir haben gravierende Probleme. Personalmangel ist schon seit Jahren der Normalzustand. Beschäftigte werden schlecht bezahlt und sind überlastet. Die Kommerzialisierung und Privatisierung unserer Krankenhäuser muss dringend rückgängig gemacht werden. Es ist eine kommunale Aufgabe, für Gesundheit und Pflege zu sorgen, das darf nicht renditeorientierten Investoren überlassen werden. Außerdem haben wir in der Krise gesehen, wie wichtig ein handlungsfähiger Staat ist. Wenn man Gesundheitsämter personell ausdünnt, wie in der Vergangenheit geschehen, dann rächt sich das.
Apropos handlungsfähiger Staat: Fürchten Sie, dass sich der Staat jetzt übernimmt? Oder freuen Sie sich, dass er als Akteur wieder gefragt ist?
Das größte Problem ist, dass der Staat zu stark unter dem Einfluss bestimmter wirtschaftlicher Interessengruppen steht. Das ist mit Demokratie und gemeinwohlorientierter Entscheidungsfindung nicht vereinbar. Wir brauchen zum Beispiel mehr unabhängige öffentliche Forschung. Dass viele Menschen Wissenschaftlern nicht mehr trauen, hängt ja auch damit zusammen, dass die Forschung zunehmend von Geldern der Industrie finanziert wird. Angebliche Experten entpuppen sich dann schnell als Lobbyisten. An Unis müssen Professoren immer mehr Drittmittel einwerben, ihr Renommee wird mit dadurch bestimmt. Aber hinter den Drittmitteln stehen kommerzielle Interessen. Es ist ein Problem, dass selbst Mediziner des Robert-Koch-Instituts in Beratergremien von Pharma-Konzernen sitzen oder ihre Projekte von der Pharmabranche bezahlen lassen. Wenn der Staat seine Gelder kürzt, gehen die Privaten rein. Aber das erzeugt Abhängigkeiten.
Wie gehen Sie persönlich mit dem Risiko um, infiziert und krank zu werden?
Ich gehöre eher zu den Ängstlicheren, auch, weil mein Mann altersbedingt zur Risikogruppe gehört. Ich versuche, vorsichtig zu sein, ohne mich verrückt zu machen. Die Infektionszahlen sind im Moment niedrig, und ich hoffe, dass das trotz der Lockerungen so bleibt. Allerdings halte ich es für notwendig, gerade jetzt viel systematischer zu testen. Nur so kann man frühzeitig feststellen, ob irgendwo wieder Infektionsherde entstehen.