Was Sahra Wagenknecht für unanständig hält
Interview mit Sahra Wagenknecht, erschienen in der WELT am 04.12.08
Sie ist das linke Aushängeschild der Linken, als Wortführerin der Kommunistischen Plattform: Sahra Wagenknecht. In einem neuen Buch über die Finanzkrise rechnet die Kommunistin mit dem Kapitalismus ab. Auf WELT ONLINE spricht Wagenknecht über unanständigen Reichtum, Josef Ackermann und Luxus.
WELT ONLINE: Frau Wagenknecht, wie alt waren Sie, als Sie "Das Kapital" zum ersten Mal gelesen haben?
Sahra Wagenknecht: Ich war 18 Jahre alt. Damals hatte ich mir alle 42 Bände der Marx-Ausgabe zum Geburtstag gewünscht.
WELT ONLINE: Jetzt mal ganz ehrlich: Wie viele Bände davon haben Sie wirklich gelesen?
Wagenknecht: Sehr viele. Und manche Passagen immer wieder.
WELT ONLINE: Welche These von Karl Marx hat Sie am meisten beeindruckt?
Wagenknecht: Dass es eine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft geben muss. Das zeigt sich auch jetzt in der Finanzkrise ganz deutlich.
WELT ONLINE: Inwiefern hat die Marktwirtschaft für Sie versagt?
Wagenknecht: Die Vorstellung, dass freie Märkte zum Wohle aller wirken, hat sich vor der Realität vollständig blamiert. Wenn nun sogar Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann nach dem Staat ruft, tut er das allerdings nicht, um die Wirtschaft wieder stärker am Allgemeinwohl statt an blinden Renditezielen auszurichten, sondern weil der freie Markt momentan die Renditen und Vermögen vernichtet. Das soll der Staat jetzt abfedern.
WELT ONLINE: Und dadurch einen noch größeren Schaden für die Allgemeinheit verhindern.
Wagenknecht: Dadurch halsen aber genau die Leute, die jahrelang von der Finanzmarktparty profitiert haben, jetzt ihre Verluste dem Steuerzahler auf. Das ist eine Unverschämtheit.
WELT ONLINE: Erklärt das, wieso nur noch jeder zweite Deutsche der Auffassung ist, dass sich die soziale Marktwirtschaft bewährt hat? Vor acht Jahren waren es immerhin noch 70 Prozent.
Wagenknecht: Wir haben in Deutschland keine soziale Marktwirtschaft mehr, sondern Kapitalismus. Einst erkämpfte soziale Sicherungssysteme wurden zerstört. Selbst viele Menschen, die Vollzeit arbeiten, kommen heute nicht mehr aus der Armutsfalle Hartz IV heraus. Das ist ein Ergebnis der unsäglichen Agenda-Politik, die Lohndumping Tür und Tor geöffnet hat. Dazu gehört etwa die Liberalisierung der Leiharbeit. Die Leiharbeiter sind natürlich auch die ersten, die jetzt in der Krise ihren Arbeitsplatz verlieren. Wir bewegen uns in Richtung Manchesterkapitalismus.
WELT ONLINE: Wie verändert wird die Marktwirtschaft aus der Krise hervorgehen?
Wagenknecht: Ich hoffe, dass im Zuge der Krise die ganze neoliberale Ideologie in Frage gestellt wird. Wir brauchen mehr öffentlichen Einfluss auf die Wirtschaft und öffentliches Eigentum. Vor allem im Finanzsektor und in den Schlüsselindustrien. Außerdem eine radikale Umverteilung der Einkommen von oben nach unten. Alles andere wären nur kosmetische Operationen.
WELT ONLINE: An welchem Punkt der Finanzkrise stehen wir?
Wagenknecht: Den Höhepunkt haben wir noch lange nicht erreicht. Im nächsten Jahr gerät die Weltwirtschaft in eine tiefe Krise. Im Zuge dessen werden auch viele Unternehmensschulden faul werden. Das gleiche gilt für ganze Staaten. Einige von ihnen werden die hohe Neuverschuldung, die sie jetzt eingehen, nicht durchhalten können und an den Rand des Staatsbankrotts geraten.
WELT ONLINE: Länder wie Ungarn, Island und Pakistan haben deshalb bereits beim IWF um Hilfe angefragt. Sollte seine Rolle künftig gestärkt werden?
Wagenknecht: Das hieße ja den Bock zum Gärtner zu machen. Der Währungsfonds hat bislang jede Finanzkrise dazu ausgenutzt, um die betroffenen Länder zur Öffnung und Deregulierung ihrer Kapitalmärkte zu zwingen. Zuletzt während der Südostasien-Krise. Dabei haben gerade bei dieser Krise die Länder am stärksten gelitten, die ihre Vorschriften für die Kapitalmärkte bereits zuvor am weitesten gelockert hatten. Der Währungsfonds trägt eine massive Verantwortung für die Verhältnisse, die wir jetzt haben. Zu hoffen, dass sich der IWF jetzt für vernünftige Regeln einsetzt, halte ich für wenig aussichtsreich.
WELT ONLINE: Was schlagen Sie stattdessen vor, um zu verhindern, dass ganze Staaten in Schieflage geraten?
Wagenknecht: Die Staaten sollten nicht nur auf Neuverschuldung setzen, sondern auf Besteuerung der oberen Zehntausend und der gigantischen Vermögen, die sich in den letzten Jahren aufgehäuft haben. Die USA etwa betreiben gegenwärtig eine moderne Art der Notenpresse. Und sie sind schon heute mit über 10 Billionen Dollar verschuldet. Wenn China und andere Schwellenländer irgendwann aufhören, US-Staatsanleihen zu kaufen, bricht die ganze Architektur des Finanzsystems zusammen.
WELT ONLINE: An welcher Stelle hat die internationale Finanzaufsicht versagt?
Wagenknecht: Fast überall. Die Deregulierung der Finanzmärkte in den vergangenen zwanzig Jahren war ein Fehler. Und es kann mir niemand erzählen, dass die Finanzaufseher jetzt völlig erschrocken erkennen mussten, was da für aberwitzige Finanzwetten gemacht oder für abstruse Papiere konstruiert wurden. Oder dass sie die dubiosen Schattenvehikel der Banken nicht kannten. Es war doch absehbar, dass das irgendwann krachen musste. Die Politik hat sich von den Finanzjongleuren abhängig gemacht.
WELT ONLINE: Wie lässt sich das zukünftig vermeiden?
Wagenknecht: Wenn man jetzt ernsthaft Lehren aus der Krise ziehen wollte, müsste man einen deutlich anderen Ansatz wagen. Wir müssen den globalen Kapitalverkehr wieder kontrollieren und Spekulation hoch besteuern, etwa durch Steuern auf Devisenhandel und Börsenumsätze.
WELT ONLINE: Wer hat Sie im Zuge der Finanzkrise positiv überrascht?
Wagenknecht: Ich hätte nicht erwartet, dass Amerikaner und Briten wesentliche Teile ihres Bankensystems verstaatlichen. Sinnvoll ist natürlich auch die Forderung von Sarkozy nach mehr Staatseigentum in Schlüsselindustrien. Aber in beiden Fällen wird der Staatseinfluss nicht genutzt, um tatsächlich ein anderes Geschäftsmodell zu erzwingen. Weg von der bedingungslosen Renditejagd. Die deutsche Reaktion auf die Krise ist dagegen besonders blamabel. Hier bettelt die Bundesregierung förmlich, dass die Banken endlich unser Steuergeld nehmen. Das ist doch absurdes Theater, aufgeführt von Laiendarstellern, die offensichtlich ihr eigenes Wirtschaftssystem nicht verstehen.
WELT ONLINE: Besitzen Sie selbst Aktien?
Wagenknecht: Nein, aus Prinzip nicht. Zurzeit bin ich auch ganz froh darüber.
WELT ONLINE: Manche Experten halten es jetzt schon wieder für einen guten Zeitpunkt, um welche zu kaufen.
Wagenknecht: An solchen Spekulationen will ich mich überhaupt nicht beteiligen, weil letztlich jeder Aktionär davon profitiert, wenn Unternehmen ihre Mitarbeiter entlassen und die Löhne drücken. Außerdem finde ich, dass Politiker überhaupt keine Aktien besitzen sollten, weil sie sich dadurch abhängig machen.
WELT ONLINE: Wie viel Arbeiterklasse steckt in Ihnen?
Wagenknecht: Herkunftsmäßig? Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen. Mein Opa war Meister bei Carl Zeiss in Jena, meine Oma Verkäuferin.
WELT ONLINE: Und heute?
Wagenknecht: Wenn Parlamentarier nur noch mit anderen Politikern oder gar Wirtschaftslobbyisten umgehen, ist die Gefahr groß, dass sie die Bodenhaftung verlieren. Mein Bekanntenkreis besteht überwiegend aus Menschen, die nicht in der Politik sind. Wichtig sind mir auch Veranstaltungen bei Gewerkschaftern.
WELT ONLINE: Haben Sie selbst mal mit Ihren Händen gearbeitet.
Wagenknecht: Während der Schulzeit. Das war tatsächlich nicht schlecht an der DDR-Schule. Einmal pro Woche war Arbeit im Betrieb angesagt, bis zum Abitur. Für mich war das eine wichtige Erfahrung.
WELT ONLINE: Wo fängt für Sie Armut an?
Wagenknecht: Armut ist immer relativ. Arm ist für mich jemand, der aus dem sozialen Leben ausgegrenzt ist, weil er sich Dinge, die für eine Mehrheit normal sind, nicht leisten kann. Dazu gehört heute auch, mal essen zu gehen oder zu verreisen. Und viele Menschen sind heute in Deutschland sogar wieder so arm, dass es noch nicht mal für eine ausgewogene Ernährung oder die Schulhefte der Kinder reicht. Das ist eine Schande für dieses Land.
WELT ONLINE: Gibt es in Ihrem Bekanntenkreis Arme?
Wagenknecht: Wenn Sie damit Menschen meinen, die von Hartz IV leben, ja.
WELT ONLINE: Und auch reiche Menschen?
Wagenknecht: Wirklich reich sind für mich Menschen, die ein Geldvermögen von mehr als einer Million Euro haben. Davon gibt es in Deutschland etwa 800.000. Solche Leute gehören nicht zu meinem Bekanntenkreis.
WELT ONLINE: Finden Sie Reichtum unanständig?
Wagenknecht: Für mich ist eine Gesellschaft unanständig, die einem Menschen das 200-fache des Einkommens eines anderen gewährleistet.
WELT ONLINE: Wie sollte dieser einseitige Reichtum gerecht verteilt werden?
Wagenknecht: Deutschland braucht eine Millionärssteuer. Wer mehr als eine Million Euro Vermögen hat, muss darauf zehn Prozent Steuern zahlen. Allein das würde dem Staat zusätzliche Einnahmen in Höhe von 200 Milliarden Euro verschaffen. Das Geld können Sie wunderbar in Bildung, Gesundheit und soziale Leistungen investieren. Langfristig gibt es ein wichtiges Ziel. Es muss sicher gestellt sein, dass niemand aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen wird. Die absolute Untergrenze sind heute etwa 1500 Euro. Soviel sollte jeder Mensch in Deutschland zum Leben mindestens haben.
WELT ONLINE: Allerdings bezahlt das bestverdienende Viertel in Deutschland bereits 80 Prozent der Lohn- und Einkommensteuer.
Wagenknecht: Das ist ja auch völlig in Ordnung. Sie zahlen ja nur deshalb so viel, weil sie ein hohes Gehalt haben. Es gibt aber ein ganz anderes Problem. Diese Steuerzahler sind überwiegend abhängig beschäftigte Gutverdiener. Selbständige Spitzenverdiener oder Dividendenmillionäre zahlen sehr viel weniger.
WELT ONLINE: Wie wollen Sie Leistung dann gerecht entlohnen?
Wagenknecht: Durch angemessene Löhne. Was ist denn das für eine Leistungsgesellschaft, wenn Menschen, die ihr Geld für sich arbeiten lassen, ungleich mehr verdienen als diejenigen, die tatsächlich arbeiten gehen.
WELT ONLINE: Auf welchen Luxus könnten Sie selbst nicht verzichten?
Wagenknecht: In den Alpen wandern zu gehen und dabei einen Sonnenaufgang zu erleben. Oder allein an einem Strand zu sein und die Wellen zu beobachten. Das ist für mich Luxus.
Sahra Wagenknecht, Wahnsinn mit Methode: Financrash und Weltwirtschaft, Verlag Das neue Berlin, 256 Seiten, 14,90 Euro