Wagenknecht sieht die Linke am Scheideweg
Interview mit Sahra Wagenknecht in der Märkischen Allgemeinen Zeitung, 03.09.2019
Der Absturz ist nicht mehr zu übersehen. Magere 5,5 Prozent bei den Europawahlen im Mai, nun in Brandenburg als Regierungspartei fast minus 8 Prozentpunkte, in Sachsen mehr als 8 Prozentpunkte minus. Für die Linke ist das ein gefährlicher Trend, warnt die scheidende Fraktionschefin im Bundestag, Sahra Wagenknecht, im RND-Interview. "Wenn wir das wieder relativieren und schönreden, statt daraus Konsequenzen zu ziehen, kann es irgendwann zu spät sein", sagt sie.
Frau Wagenknecht, den Linken sind am Sonntag in Sachsen und Brandenburg die Wähler in Scharen davon gelaufen. Warum?
Viele frühere Wähler haben offensichtlich das Gefühl, dass wir uns von ihrer Lebensrealität entfremdet haben, dass wir nicht mehr ihre Sprache sprechen. Sie nehmen uns als angepasst war, als Teil des grünliberalen Establishments. Wer im Großen und Ganzen zufrieden ist, kann dann auch gleich grün wählen, die Unzufriedenen suchen sich eine andere Stimme.
Es war wieder viel von ostdeutschen Interessen die Rede. Unterscheiden die sich immer noch so stark von denen der Westwähler?
Die Ergebnisse sind keine spezifischen Ost-Ergebnisse. Die AfD hat auch in abgehängten Regionen des Westens überdurchschnittliche Stimmenanteile. Der Unterschied ist, dass es im Osten mehr von diesen Regionen gibt, mehr Menschen, die für niedrige Löhne arbeiten und sich von der Politik im Stich gelassen fühlen.
Was ist der Grund dafür, dass die Linke sich von denen abgewandt hat?
Teilweise hat die Linke versucht, die Grünen nachzuahmen. Klimaschutz ist auch für unsere Wähler wichtig, aber nicht als Lifestyle-Thema für Besserverdiener, sondern als Frage unserer Wirtschaftsweise. Wenn die Bundesregierung etwa eine CO2-Steuer debattiert, aber gleichzeitig zu den vehementesten Verteidigern des Freihandelsabkommens mit dem Mercosur gehört, das die brasilianischen Großgrundbesitzer dazu motiviert, den Regenwald abzufackeln, und das den globalen CO2-Ausstoß auch wegen steigender Transportmengen massiv erhöht, dann ist das keine verantwortliche Klimapolitik, sondern Klimaheuchelei. Und wenn dann auch Teile der Linken diese CO2-Steuer befürworten, die Pendler und die Mittelschicht außerhalb der Großstädte hart treffen würde, müssen wir uns nicht wundern, dass sich viele abwenden.
Welchen Anteil hat die Linke am Erstarken der AfD im Osten?
Die Hauptverantwortung tragen die Regierungsparteien, die die tiefe soziale und regionale Spaltung in unserem Land verursacht haben. Im Osten hat es eine soziale Marktwirtschaft, wie sie die Menschen in Westdeutschland bis zur Jahrtausendwende erlebt haben, nie gegeben. Die Deindustrialisierung des Ostens hat sich eher am britischem Vorbild orientiert: in kürzester Zeit wurden hunderttausende Jobs vernichtet, ohne sich um Ersatz zu kümmern. Heute arbeitet im Osten jeder dritte im Niedriglohnsektor. Es gibt im ländlichen Raum noch weniger Ärzte oder Busverbindungen und eine noch größere Abwanderung als in vergleichbaren Regionen im Westen. Diese Entwicklungen hat nicht die Linke verursacht, aber richtig ist: Wir waren über viele Jahre die Stimme der Unzufriedenen. Indem wir uns von unseren früheren Wählern entfremdet haben, haben wir es der AfD leicht gemacht. Insofern sind wir für ihren Erfolg mitverantwortlich.
Welche Verantwortung tragen Sie als Fraktionschefin im Bundestag für das „Desaster“, wie ihr Mitvorsitzender Dietmar Bartsch die Wahlergebnisse bezeichnete?
Da die schlechten Wahlergebnisse der Linken einem Bundestrend folgen, tragen alle, die Führungspositionen bekleiden, Verantwortung. Ich habe für einen anderen Kurs geworben, aber hatte damit keinen Erfolg. Dieses Scheitern muss ich mir vorwerfen.
Der Streit über die Ausrichtung der Linken und wie offen die deutsche Gesellschaft für Migration sein soll, ist durch eine Art Burgfrieden zwischen Parteispitze und der Fraktionsspitze eingedämmt worden. Müssen diese Fragen endgültig geklärt werden?
Es geht nicht nur um unsere Haltung zur Migration. Die Linke muss klären, für wen sie in erster Linie Politik macht: Für die gut ausgebildete, gehobene Mittelschicht in den Metropolen oder für diejenigen, die um ihr bisschen Wohlstand immer härter kämpfen müssen? Wenn wir Menschen jenseits des hippen Großstadtmilieus erreichen wollen, müssen wir ihre Sicht der Dinge ernst nehmen, statt sie zu belehren, wie sie zu reden und zu denken haben. Für die meisten Menschen ist Heimat etwas sehr Wichtiges, sie legen Wert auf soziale Bindungen, Familie und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Beim Thema Sicherheit geht es um soziale Sicherheit, aber auch um den Schutz vor Kriminalität. Die wachsende Distanz zu dieser Lebenswelt zeigt sich auch in unserem Umgang mit AfD-Wählern, die gern pauschal als Rassisten beschimpft werden, obwohl viele von ihnen früher links gewählt haben. Wenn wir wieder mehr Zuspruch haben möchten, müssen wir uns ändern.
Ist das mit den beiden Vorsitzenden Kipping und Riexinger hinzubekommen oder braucht die Linke auf Bundesebene neben einer strategischen auch eine personelle Neuausrichtung?
Es gibt einen gefährlichen Trend. 5,5 Prozent bei der Europawahl, jetzt Sachsen und Brandenburg. Wenn wir das wieder relativieren und schönreden, statt daraus Konsequenzen zu ziehen, kann es irgendwann zu spät sein.
Im Oktober wählt Thüringen. Es wird auch eine Abstimmung über den einzigen linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Wäre eine innerparteiliche Debatte für ihn bedrohlich?
Thüringen gehört zu den Bundesländern, wo wir entgegen dem Bundestrend nach wie vor viel Unterstützung und Rückhalt haben. Bodo Ramelow ist beliebt, die Menschen spüren, dass er sich als Ministerpräsident für ihre Interessen einsetzt. Wenn die Bundespartei jetzt signalisiert: Wir haben verstanden und wir werden uns ändern, würde das in Thüringen helfen.
Werden Sie sich im Thüringer Wahlkampf engagieren?
Ja, natürlich.
Sie geben Ihren Posten als Fraktionsvorsitzende auf. Wann genau wird das sein, und gibt es schon einen Termin für die Wahl des neuen Fraktionsvorstands?
Nach der Thüringen-Wahl. Den genauen Termin werden wir dann vereinbaren.
Von Thoralf Cleven/RND