Sahra Wagenknecht

"Wir haben kaum noch Politiker mit Rückgrat"

Interview mit der NRZ, erschienen am 08.09.2020

08.09.2020

Jan Jessen:​Frau Wagenknecht, in den vergangenen Tagen kocht die Diskussion über den Umgang mit den sogenannten Corona-Demonstranten hoch. Welchen Eindruck haben Sie von den Protesten?

Sahra Wagenknecht: ​Ich halte es für ein Riesenproblem auch im Sinne der ehrlichen Anliegen, die es da gibt, dass man es akzeptiert, dass Rechtsradikale und Reichsbürger in diesen Demonstrationen mitmarschieren. Damit diskreditiert man das ganze Geschehen. Ansonsten gibt es viele Menschen, bei denen ich durchaus verstehe, dass sie verzweifelt sind und dass sie das Krisenmanagement der Bundesregierung fragwürdig finden. Wenn ich alleine an die Widersprüchlichkeit denke, dass die großen Airlines bis auf den letzten Platz vollgebucht in alle möglichen Weltregionen fliegen, aber ein kleiner Gastwirt die Auflage hat, nur noch die Hälfte seine Raumes mit Tischen zu belegen, dann verstehe ich, wenn Menschen fragen, wie das zusammen passen kann. Noch schlimmer ist es in den Bereichen, in denen Menschen die  soziale Existenz zerstört wird, beispielsweise in der Veranstaltungsbranche. Die haben ja quasi Berufsverbot seit mehreren Monaten und für sie wird nichts gemacht, sie werden auf Hartz IV verwiesen. Das ist absolut inakzeptabel und dass sich dagegen Menschen wenden ist völlig legitim. Ich halte es für arrogant und dumm, wenn Politiker Menschen, die diese Maßnahmen kritisieren, pauschal als Covidioten beschimpfen.

JJ:​ Konkrete politische Forderungen beispielsweise zur Verbesserung der Situation der Menschen in der Veranstaltungsbranche waren auf den Demonstrationen aber nicht zu hören.

SW:​ Das ist ein ganz heterogenes Spektrum. Da laufen Nazis, da laufen Reichsbürger, da laufen Rechtsextreme und es laufen ganz normale Bürger, die aus unterschiedlichen Motiven heraus finden, dass die Krise von der Bundesregierung schlecht gemanagt wird, dass die Maßnahmen widersprüchlich sind und die sich dagegen wenden wollen. Letzteres finde ich legitim. Ich teile nicht die Einschätzung, die es da auch gibt, dass Corona lediglich eine Grippe sei und es keinerlei Anlass gibt irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Aber auch das ist eine legitime Meinung. Und es ist im Rahmen der Meinungsfreiheit, dafür auf die Straße zu gehen.

JJ:​ Um bei Ihrem Airline-Beispiel zu bleiben: In Flugzeugen gibt es ausgefeilte Lüftungssysteme, in Gaststätten nicht, was vielleicht der eine oder andere nicht weiß. Ist es möglicherweise doch nur ein kommunikatives Problem, das die Leute auf die Straße treibt?

SW:​ Man kann schon das Gefühl haben, dass diejenigen, die die stärkeren Lobbys haben, auch die günstigeren Regeln bekommen. Dass das Lüftungssystem im Flugzeug verhindert, dass Menschen, die auf derart engem Raum nebeneinander sitzen, sich am Ende auch anstecken können, zumal wenn sie nach Servieren des Getränks die Maske abnehmen, dass kann mir niemand erzählen. Ich habe übrigens selbst in einem Flugzeug erlebt, dass eine vollbesetzte Maschine 40 Minuten unbelüftet auf dem Rollfeld stand, weil der Flughafen ihnen keinen Strom mehr gegeben hat; die hatten überbucht und mussten das Problem lösen. Das hätte nie sein dürfen. Ich werde nicht die einzige sein, die so etwas erlebt. Es gibt ja noch mehr Widersprüche. Beispielsweise, dass die einzelnen Bundesländer unterschiedliche Regeln haben. Es ist ja nachvollziehbar, dass ein Bundesland, in dem es wenig Infektionen gibt, anders damit umgeht, als eines, in dem es viele gibt. Aber vielfach hat man andere Auflagen, wenn man die Landesgrenze überschreitet obwohl die Infektionsrate relativ ähnlich ist. Das kann man niemandem erklären.

JJ:​ Hätten Sie sich für alle Bundesländer die gleichen Maßnahmen gewünscht?

SW:​ Zumindest wenn die Infektionszahlen ähnlich sind, sollte man auch ähnlich reagieren. Alles andere kann man nicht vermitteln. Ich glaube aber, die Schlüsselfrage ist, wie die Bundesregierung mit den sozialen und ökonomischen Problemen umgeht, die aus der Krise resultieren. Das ist ja das, was viele Leute am Ende umtreibt und was ihnen Angst macht, etwa Angst davor, den Arbeitsplatz zu verlieren. Und da muss ich sagen: Anstatt 20 Milliarden für eine Mehrwertsteuersenkung zu verpulvern, die am Ende vor allem Amazon und Co. noch reicher macht und bei den Konsumenten nicht ankommt, wäre es viel besser gewesen, dieses Geld zu nehmen und die Menschen abzusichern, die jetzt Probleme haben.

JJ:​ NRW-Verbraucherministerin Heinen-Esser hat davon berichtet, dass bei den Schuldnerberatungsstellen immer mehr Menschen ihre Befürchtungen schildern, in die private Insolvenz zu geraten. Was muss aus Ihrer Sicht geschehen, um das zu verhindern?

SW: ​Es beginnt ja damit, dass Leute, die keine reguläre Vollzeitarbeitsstelle hatten, ins Nichts stürzen und dass man das zulässt. Freiberufler bekommen nichts außer Hartz IV. Soloselbständige bekommen nichts. Kleinunternehmer haben Soforthilfen bekommen, aber nur für die Betriebsausgaben. Ihr Lebensunterhalt ist nicht abgesichert und meistens sind das Menschen, die keine großen Reserven haben. Ich habe am Anfang der Krise gefordert, dass denjenigen, denen aufgrund der Maßnahmen das Einkommen wegbricht, dieses Einkommen vom Staat erstattet wird.  Es ist natürlich auch eine Diskrepanz, wenn ein Unternehmen wie Lufthansa neun Milliarden bekommt, aber noch nicht einmal verlangt wird, dass Sozialvereinbarungen mit den Beschäftigten aufrechterhalten werden, und zugleich eine Branche wie die Veranstaltungsbranche, wo noch mehr Menschen arbeiten, gar nichts bekommt. Da ist das Geld einfach falsch eingesetzt.

JJ:​ Für die Veranstaltungsbranche sprechen viele unterschiedliche Verbände. Ist die Lobbykraft nicht stark genug?

SW: ​Ja, es ist ja nicht nur im Bereich der Luftfahrt so. Wir haben ja auch Unternehmen, die in Zeiten der Krise Dividende ausschütten. BMW hat in diesem Jahr eine Dividende von 1,6 Milliarden ausgeschüttet. Davon sind 770 Millionen allein an zwei Leute gegangen. Hätten sie dieses Geld im Unternehmen gehalten, hätten sie ihre Kurzarbeiter voll bezahlen können. Aber nein, sie nehmen stattdessen staatlich subventioniertes Kurzarbeitergeld, das in diesem Jahr vorwiegend aus Steuermitteln bezahlt wird.

JJ:​ Warum macht der Staat das mit? In Frankreich erhält kein Unternehmen Kurzarbeitergeld, das Dividenden ausschüttet.

SW: ​Der Druck ist offenbar nicht groß genug. Die Tradition in Frankreich ist eine andere. Die Leute gehen da eher auf die Straße. Dort hätte so etwas wahrscheinlich sofort zu einem Aufruhr geführt. Wir nehmen viel zu viel noch still hin.

JJ: ​Die Linke kritisiert diese Zustände, verbessert sich aber nicht in Umfragen. Wie erklären Sie sich das?

SW: ​Es ist nicht so einfach. Es ist ja nicht so, dass die Leute sagen, in diesem oder jenem Punkt stimmen wir mit der Linken überein und deshalb wählen wir sie. Das spielt sich ja auf vielen Ebenen ab. Parteien werden nicht nur wegen Programmen sondern auch aufgrund des Personals gewählt. Es ist die Frage, inwieweit die Leute es uns zutrauen, dass wir etwas für sie verändern. Wir sehen es ja auch auf kommunaler Ebene, gerade hier in NRW. Es gibt Kreisverbände, die machen brillante Arbeit, da haben die Leute das Gefühl, dass die für sie da sind und deswegen gibt es da sehr gute Ergebnisse. Es gibt in der Linken aber auch Tendenzen an der einen oder anderen Stelle Themen nach vorne zu stellen, die die Leute weniger interessieren oder wo sie das Gefühl haben, dass die Linke nicht weiß, wo ihre wirklichen Sorgen sind. Manchmal geht auch die Art und Weise, wie über Themen geredet wird, an den Leuten vorbei. Natürlich sind Klima- und Umweltschutz wichtige Themen. Aber wenn die Menschen den Eindruck haben, die Linken machen es ähnlich wie die Grünen und wollen den kleinen Leuten letztlich nur an ihr Geld und machen sie dann noch verächtlich, wenn sie ihr Schnitzel beim Discounter kaufen, dann ist das schon alleine ein Grund für viele, dass sie mit solchen Parteien nichts zu tun haben wollen. Ich finde, dass wir stärker darauf achten müssen, dass wir eine Politik machen, bei der die Menschen, denen es nicht gut geht, sich aufgehoben fühlen.

JJ: ​Also weniger Identitäts- und mehr Sozialpolitik?

SW: ​Wenn Sie es mit diesem Begriff beschreiben wollen, ja, das ist genau das Problem. Teilweise haben die Interessen von sehr kleinen Gruppen ein Übergewicht bekommen, das soziale Themen überlagert, und dann fühlen sich die Menschen mit sozialen Problemen nicht mehr angesprochen.

JJ: ​Derzeit laufen die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. Auf der einen Seite haben wir in NRW Städte mit leeren Kassen, auf der anderen die Erwartungshaltung, dass Menschen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, also beispielsweise Krankenpfleger oder Erzieherinnen, gerade jetzt einen kräftigen Aufschlag bekommen. Was muss geschehen?

SW: ​Man lässt die Kommunen in vielen Bereichen allein. Jetzt steigen die Ausgaben wieder, beispielsweise die Sozialkosten, das müssen sie schultern. Aber die Gewerbesteuereinnahmen brechen weg. Das, was da bisher an Ausgleich vorgesehen ist, reicht nicht. Natürlich wäre es auch im Rahmen eines Konjunkturprogramms wichtig, Nachfrage zu stabilisieren. Ganz abgesehen von der Frage, wie viel etwa Pflegekräfte in diesem Land seit vielen Jahren leisten, nicht erst seit Corona, und mit welch niedrigen Löhnen kombiniert mit miesen Arbeitsbedingungen diese Leute abgespeist werden. Das ist nicht hinnehmbar und rächt sich auch. Es gibt immer weniger junge Leute, die eine solche Ausbildung machen wollen. Aber das kann eine Kommune allein nicht lösen. Das ist eine Frage der Steuerpolitik im Bund. Es ist ja nicht so, als könnte man das Geld nicht hereinholen. Große Unternehmen sparen enorm viele Steuern, indem sie Tochtergesellschaften in irgendwelchen Steueroasen gründen. Übrigens auch die Lufthansa, die keine einzige dieser Tochtergesellschaften geschlossen hat, obwohl sie Steuergelder kassiert. Statt an dieser Situation etwas zu ändern, ist Deutschland einer der Bremser auf EU-Ebene.

JJ: ​Die Problematik der Steuervermeidung ist hinlänglich bekannt. Ebenso wurden nach der Finanzkrise konkrete Missstände im Finanzsektor benannt. Wieso schafft es die Politik nicht, Konsequenzen zu ziehen und Missstände abzustellen?

SW:​   Wir haben in Regierungsfunktion kaum noch Politiker mit Rückgrat. Wenn man so etwas durchsetzen will, kriegt man Gegenwind von den Industrie- und Banklobbyisten, die davon profitieren, dass es da keine guten Regeln gibt. Die haben auch medial Einfluss, weswegen man möglicherweise den einen oder anderen schlechten Artikel bekommt. Da muss man dann eben durch. Aber die wollen da nicht durch. Und sie haben oft auch bis ins Persönliche hinein gute Beziehungen zu diesen Wirtschaftskreisen, Bundesfinanzminister Scholz beispielsweise ist da ja bestens vernetzt, man kennt sich, man klopft sich gegenseitig auf die Schulter. Wir haben ja auch dieses ungute System, dass Politiker, wenn sie ausscheiden, dann oft von einst begünstigten Wirtschaftsunternehmen aufgefangen werden und verdienen dann in einem Jahr mehr als in ihrer ganzen Politik-Karriere. Das sind alles Mechanismen von Korruption. Deswegen muss man auch an solche Strukturen ran. Wir fordern ja seit langem, dass Parteispenden von Unternehmen verboten werden, aber auch, dass es untersagt wird, dass Politiker in die Branche wechseln, mit der sie als Minister oder Staatssekretär zu tun hatten. Aber es gibt da keine vernünftigen Regeln bis jetzt.

JJ:​ Wir hangeln uns in den letzten Jahren von Krise zu Krise. Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise. Ist diese Aneinanderreihung von Krisen ein Zufall oder ist sie systemimmanent?

SW:​ Ich glaube schon, dass das etwas mit unserer Wirtschaftsordnung zu tun hat. Sie funktioniert nicht mehr richtig. Der Kapitalismus hatte immer große Widersprüche, große Kontraste, große Ungerechtigkeiten, global ohnehin. Aber er hatte schon einmal eine Phase, wo er zumindest in den Industrieländern ziemlich gebändigt war. Das hatte auch damit zu tun, dass er überwiegend nationalstaatlich organisiert war, und bestimmte demokratische Hebel funktionierten, mit denen man Sozialgesetze, Einschränkung von Finanzspekulation und vieles andere durchsetzen konnte. Vieles davon ist in den letzten 30 Jahren rückgängig gemacht worden, auch dadurch, dass sich der Kapitalismus durch die Globalisierung dieser Regeln entledigt hat. Jetzt haben wir wieder eine Situation wie im 19. Jahrhundert, ein relativ unreguliertes Profitstreben und das verbunden mit einer Wirtschaft, in der es viel größere und viel massivere Machtpositionen gibt, gerade im Finanzsektor und im Bereich der neuen digitalen Technologien. An die Macht, die heute Amazon hat, kommt kein Rockefeller oder kein Carnegie oder einer der anderen sogenannten Räuberbarone des ausgehenden 19. Jahrhunderts heran. Die waren Zwerge dagegen. Das hat sich historisch immer wieder gezeigt: Markt und Wettbewerb funktionieren nur, wenn kein Anbieter zu groß wird. Wir haben zurzeit riesige Monopolanbieter und dadurch steigt die Ungleichheit in einer so extremen Form, dass sie am Ende die ganze Gesellschaft destabilisiert.

JJ:​ Vielerorts in Europa aber auch auf anderen Kontinenten gibt es Tendenzen einer Renationalisierung und autoritärer Politik. Ist das auch eine Folge dieser wachsenden Ungleichheit?

SW:​ Die Rechten profitieren immer, wenn Menschen unzufrieden sind und wenn sie Existenzängste haben. Die Nazis hätte es in Deutschland nicht gegeben ohne Weltwirtschaftskrise, ohne Hunger und ohne eine unendliche Enttäuschung  über die Weimarer Republik. Man hatte mehr als ein Jahrzehnt Demokratie, merkte aber, dass es einem kein bisschen besser ging. Das war das Einfallstor. Ähnlich ist es heute. Früher war die liberale Demokratie das Staatssystem, das viele Menschen sinnvoll fanden. Diese Zustimmung ist deutlich weniger geworden. Das ist nachvollziehbar, weil viele Menschen den Eindruck haben, dass ihre Interessen überhaupt nicht berücksichtigt werden. Was nützt ihnen dann die Demokratie? Donald Trump ist ja auch deswegen gewählt worden. Wenn er nicht wiedergewählt werden sollte, dann nur wegen seines schlechten Managements der Corona-Krise, mit Sicherheit nicht aufgrund der Überzeugungskraft von Herrn Biden.

JJ:​ Warum aber sollten liberale Demokraten und Kapitalisten das System gefährden, von dem und in dem sie eigentlich gut gelebt haben?

SW:​ Politiker denken von Wahlperiode zu Wahlperiode. Und die Spaltung wird leider nicht nur von rechts vorangetrieben. Die USA ist ein Beispielland, wohin eine solche Entwicklung führt. Trump setzt voll auf diese Polarisierung, weiß gegen schwarz, konservativ gegen liberal. Es funktioniert aber nur, weil die andere Seite es mitmacht. Weil viele gerade unter den einfachen Leuten das Gefühl haben, dass die Demokraten die gekauften Lobbyisten der Wallstreet sind, die sich liberal geben, aber auf ihre Nöte herabsehen und sie letztlich verachten. Das ist ja teilweise auch so. Biden macht es zwar nicht so plump wie Hillary Clinton, die die Leute auch noch beschimpft hat, aber die Haltung ist schon bei vielen da. Ich sehe das auch in der deutschen Politik. Der Begriff Covidiot ist ja so einer, mit dem man Leute pauschal herabsetzt. Da fühlen sich vielleicht Leute angesprochen, die gar nicht gemeint waren. Letztlich ist das eine Pauschalverdammung all derer, die diese Maßnahmen nicht richtig finden. Damit drängt man sie in eine Front, in eine Solidarisierung mit der Rechten, denn da werden sie wenigstens nicht so respektlos behandelt.

JJ:​ Gesprächsangebote, wie sie beispielsweise den Pegida-Demonstranten unterbreitet wurden, sind allerdings auch nicht sonderlich zielführend.

SW:​ Natürlich standen die führenden Köpfe etwa bei Pegida rechtsaußen. Aber bei den ersten Demos sind auch Leute mitgelaufen, die einfach unzufrieden waren. Solche Menschen erleben immer wieder, dass man sie nicht ernst nimmt oder beschimpft. Das ist ja nicht nur jetzt bei dem Thema Corona so, es gab auch in der Umweltdebatte immer wieder so einen verächtlichen Zug gegenüber Menschen, die nicht auf ihr Auto verzichten können, beim Discounter kaufen, Fleisch essen. Das ist eine respektlose Debatte, von der sich viele Leute verletzt fühlen und womit man sie nach rechts drängt.

JJ:​ Wo wir schon im Pegida sprechen. Vor fünf Jahren sagte Kanzlerin Merkel bezüglich der Flüchtlingskrise ihren legendären Satz „Wir schaffen das“. Haben wir es geschafft?

SW:  ​Die Frage ist doch: Ist unser Land seitdem offener, pluraler und progressiver geworden? Ich finde, es ist das Gegenteil eingetreten und das ist nicht erstaunlich, so, wie Frau Merkel das Ganze gemanagt hat. Natürlich haben wir jetzt noch mehr Wohnbezirke, wo die Infrastruktur verfällt. Wir haben mehr Schulen, in denen 90 Prozent der Kinder, die eingeschult werden, kein Deutsch sprechen. Das sind ja ernste Probleme. Wenn das von linken Kräften geleugnet wird, dann häufig von Leuten, in deren privilegierten Wohnbezirken so etwas nicht stattfindet. Ein Großteil der Zuwanderer, die damals gekommen sind, hat bis heute keine Arbeit. Viele hatten schlechte und unsichere Jobs, die jetzt in der Krise als erstes verloren gehen. In keiner Hinsicht hat die Kanzlerin das erreicht, was sie mit dem Satz ausgedrückt hat. Sie hat die Stimmung ins Kippen gebracht. Es gab kürzlich eine Umfrage, ob wir etwas mehr Minderjährige aus den griechischen Camps aufnehmen sollen. Ich bin fest überzeugt, dafür hätte es im Jahr 2014 eine große Mehrheit gegeben. Heute gibt es keine Mehrheit mehr. Das ist immer so: Wenn man eine Sache überzieht, schlägt die Stimmung ins Gegenteil um. Das alles hat unser Land sehr zum Nachteil verändert. Es ist tiefer gespalten als je zuvor.

JJ:​ Wie kann diese Spaltung überwunden werden?

SW:​ Am wichtigsten ist die soziale Komponente. Man muss in die Wohnbezirke investieren, in denen sich die Probleme häufen. Man muss Wohnungen bauen. Man muss in die Schulen investieren und in die Vorschulbildung. Es sollte ein verpflichtendes Vorschuljahr geben, damit alle Kinder angemessen Deutsch sprechen, wenn die 1. Klasse beginnt. Dafür muss man ziemlich viel Geld einsetzen. Schulen in Brennpunkten brauchen eigentlich doppelt so viele Lehrer pro Kind wie Schulen in guten Wohnbezirken. Denn in sozial schwierigen Vierteln sind Eltern häufig nicht in der Lage, ihren Kindern Zusatzunterricht zu geben.

JJ: ​In Ostdeutschland ist sehr viel Geld in die Infrastruktur investiert worden. Mancher Oberbürgermeister im Ruhrgebiet träumt von Straßen, wie es sie in ostdeutschen Kommunen gibt. Trotzdem ist der Anteil derjenigen, die rechts wählen, erheblich höher als in Westdeutschland. Geld allein kann es offenbar nicht richten.

SW: ​Die höchsten AfD-Anteile gibt es auch im Osten in Regionen, die man als strukturschwach bezeichnet, wo die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch ist, wo die jungen Leute abwandern und wo es nicht besonders schön aussieht. Im Osten sind sicher viele Innenstädte gut saniert worden, das Geld hätte man sich auch für Gelsenkirchen oder andere Städte in NRW gewünscht, aber es gibt eben trotzdem viele Regionen, in denen die sozialen Probleme größer sind als im Großraum Leipzig oder in den Berliner Innenbezirken. Nicht jedem geht es schlecht, der die Politik der Bundesregierung kritisiert. Aber auch, wenn es einem verhältnismäßig gut geht oder man eine gute Rente erhält, und man sieht dann, wie die Heimatregion verfällt, wie der letzte Arzt seine Praxis schließt und kein Bus mehr vorbeikommt, dann empfinden Menschen das als persönliche Entwertung und Entwürdigung. Und sie haben auch recht, wenn sie sagen, dass ihre Region in Berlin niemanden interessiert.

JJ: ​Was bringen Sie den wahlkämpfenden Genossen an Rhein und Ruhr als Motivationshilfe mit?

SW: ​In den Kommunen geht es um elementare Fragen wie: Was kann man machen bei der Wohnsituation? Das ist für uns ein ganz großes Thema, öffentlicher Wohnungsbau statt Privatisierung. Es geht auch um den öffentlichen Nahverkehr, also bessere Anbindungen und günstigere Tickets. Das ist ja auch die ganze Heuchelei in der Umweltdebatte. Viele Leute können ja gar nichts anders als mit dem Auto fahren, weil die Nahverkehrsangebote oft zu schlecht sind und weil sie vielfach auch zu teuer sind. Wichtig ist auch die Sozialinfrastruktur, also die Instandsetzung von Schulen beispielsweise. In der Corona-Krise kriegen die Schulen alle möglichen Auflagen, aber es gibt Schulen, in denen man nicht mal vernünftig lüften kann, weil die Fenster kaputt sind. Wir brauchen ein anderes Steuersystem. Wir müssen die stärker belasten, wo viel zu holen ist, weil man es sonst nicht finanzieren kann. Da geht es um Konzernsteuern, aber auch um eine Vermögenssteuer für Multimillionäre und Milliardäre. Das wird eine Schlüsselfrage in den nächsten Jahren.

JJ: ​Wo ist denn unter Regierungsbeteiligung der Linken etwas auf kommunaler Ebene erreicht worden?

SW:​ Eine Leistung, auf die wir verweisen können, ist der Mietendeckel in Berlin. Natürlich stehen da noch juristische Auseinandersetzungen aus, aber ich finde, dass ist wenigstens eine couragierte Regel, wo wir klar gemacht haben, dass man diese Mittreiberei nicht hinnehmen muss. Das wäre etwas, was sofort in Düsseldorf, Köln, Essen oder anderen großen Städten gemacht werden könnte.

JJ: ​Dann investieren die Wohnungsbaugesellschaften noch weniger.

SW: ​Also wir sind der Meinung, dass in erster Linie die öffentliche Hand mehr investieren sollte. Außerdem investieren viele private Unternehmen zurzeit auch nicht, sondern machen dicke Gewinne damit, dass sie Wohnungen einfach verfallen lassen. Andere machen Luxussanierungen, aber in solchen Wohnungen können die meisten Menschen gar nicht mehr wohnen. Aus diesen beiden Extremen kommt man nur heraus, wenn der Wohnungsbau öffentlich ist. Wir sind ohnehin der Meinung, dass Wohnen nicht in die Hände von Spekulanten und Renditejägern gehört. Das ist einfach ein Menschenrecht. Die Machtverteilung zwischen Mieter und Vermieter ist ungleich und unfair.

JJ: ​Wo sollte noch rekommunalisiert werden?

SW: ​Das betrifft Krankenhäuser, Wasser, Energie, Nahverkehr, Müll. Diese ganzen klassischen kommunalen Dienste, die teilweise privatisiert worden sind, was an keiner Stelle zu Verbesserungen geführt hat. Es hat meistens die Arbeitsverhältnisse verschlechtert, hat oft die Preise nach oben getrieben und sich eigentlich nie bewährt. All diese Bereiche sind meistens Monopole vor Ort, da gibt es keinen Wettbewerb. 

JJ: ​Ein Blick in die Außenpolitik: Nach dem Anschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Nawalny gibt es in der deutschen Politik Forderungen nach einem Ende des Pipeline-Projekts Nord Stream 2. Was halten Sie von diesen Forderungen?

SW: ​Die Vergiftung eines Oppositionspolitikers ist ein unglaubliches Verbrechen. Das muss aufgeklärt werden. Ob Putin wirklich so dumm ist, ausgerechnet Nowitschok zu benutzen, wenn er einen derart prominenten Oppositionellen aus dem Weg räumen will, weiß ich nicht. Aber man muss auf Aufklärung drängen. Was Nord Stream betrifft: Man tut ja gerade so, also wäre Nord Stream eine Gefälligkeit an Putin. Tatsächlich bedeutet das Projekt, dass die deutsche Wirtschaft mit deutlich billigerem Gas beliefert wird, als wenn wir das teurere und umweltschädlichere Fracking-Gas aus den USA einkaufen müssten. Wenn der Umstand, dass Regierungen Menschen umbringen, dazu führt, mit diesen Regierungen keine Geschäfte mehr zu machen, dann müssten wir uns in unseren Außenwirtschaftsbeziehungen völlig neu orientieren. Dann hätten wir längst Sanktionen für amerikanische Produkte in Europa verhängen müssen. Die USA führen seit Jahren einen Drohnenkrieg, bei dem schon über 1000 unschuldige Menschen zerfetzt wurden. Die ganze Nordstream-Debatte ist also inkonsequent und heuchlerisch. Die Grünen, die jetzt ebenfalls wegen des Attentats auf Nawalny den Stopp von Nord Stream 2 fordern, hatten auf ihrer jüngsten Klausurtagung Madeleine Albright zugeschaltet, die ehemalige US-Außenministerin, die in den neunziger Jahren sagte, das damalige US-Embargo gegen den Irak sei den Preis von 500.000 toten Kindern wert gewesen. Die Grünen sind außenpolitische Geisterfahrer, das kann ich nicht ernst nehmen.

JJ: ​In der Linken wird aktuell über die Nachfolge der bisherigen Vorsitzenden Riexinger und Kipping diskutiert. Stehen Sie zur Wahl?

SW: ​Nein. Ich hoffe aber sehr, dass wir zwei neue Parteivorsitzende bekommen, mit denen wir wieder mehr Menschen erreichen können. Es ist auch wichtig, dass diese ständigen Angriffe auf die Fraktionsspitze aufhören. Das hat uns sehr geschadet. Man muss wieder an einem Strang ziehen.