Sahra Wagenknecht

Nur kleine Stücke vom großen Kuchen

Artikel von Sahra Wagenknecht erschienen am 03.09.2010 in der Tageszeitung "Neues Deutschland"

04.09.2010
Sahra Wagenknecht

Die Rente erst ab 67 gehört nicht ausgesetzt, sondern abgeschafft. Sie ist wirtschaftspolitisch kontraproduktiv, unter sozialen und menschlichen Gesichtspunkten schändlich und ihre Begründung verlogen. Ja, die Lebenserwartung steigt und ältere Menschen sind heute gesünder und fitter als ihre Vorfahren in gleichem Alter. Darüber sollten wir uns freuen. Aber das ist kein Grund, die Senioren zu zwingen, bis zum Umfallen zu malochen.

Wir haben in Deutschland real über vier Millionen Arbeitslose. Insgesamt 8,6 Millionen Menschen geben nach einer Untersuchung des statistischen Bundesamtes an, dass sie liebend gern mehr arbeiten würden, aber keine Vollzeitarbeit finden und sich daher mit Teilzeit- und Minijobs durchs Leben schlagen müssen. Das sind Dreißig-, Vierzig-, Fünfzigjährige! In einer Situation, wo Millionen jüngere Menschen keine Chance auf einen ordentlichen Arbeitsplatz haben, den Druck auf Ältere zu erhöhen, den ihren möglichst spät zu verlassen, ist verantwortungslos.

Auch das Gerede vom »demografischen Rentenproblem« ist Unfug. Es gibt ein solches Problem nicht. Im Jahr 1950 kamen auf einen Rentner etwa sieben Erwerbstätige, im Jahr 2000 waren es noch vier. 2030 werden es schätzungsweise zwei sein. Die gesetzliche Umlagerente hat die Veränderungen 50 Jahre lang ohne Probleme verkraftet, die Renten sind in dieser Zeit erheblich gestiegen. Das funktionierte, weil die Produktivität der Arbeit stetig zugenommen hat und die Löhne diesem Produktivitätszuwachs annähernd gefolgt sind. Die Produktivität wird auch in Zukunft schneller steigen als der Anteil der Älteren an der Bevölkerung. Selbst bei einem Produktivitätszuwachs von nur einem Prozent pro Jahr würde pro Kopf – und also auch pro Rentner – in 50 Jahren mindestens zwölf Prozent mehr Einkommen zur Verfügung stehen als heute.

Der Kuchen wird also auch in Zukunft wachsen, die Frage ist nur, wer wie viel von diesem Kuchen abbekommt. Daher ist das Kernproblem für die Renten nicht die Demografie, sondern die Lohnentwicklung. In Deutschland sinken die Reallöhne seit annähernd zehn Jahren und damit natürlich auch die Rentenbeiträge. Je länger sich dieser Prozess fortsetzt, desto größer sind die Löcher in den Rentenkassen. Dieses Problem wird verschärft durch die unter der SPD-Grünen-Regierung eingeleitete bewusste Zerschlagung der gesetzlichen Rente. Um die Rentenbeiträge zu deckeln, wurde das gesetzliche Rentenniveau so rabiat abgesenkt, dass ein Beschäftigter mit einem Bruttoeinkommen von 2000 Euro nach 38 Beitragsjahren heute gerade mal Anspruch auf eine Grundrente in Hartz-IV-Höhe erwirbt. Profiteure dieses Prozesses sind die Unternehmen, die dank der gedeckelten Rentenbeiträge Lohnkosten in Milliardenhöhe sparen, und die Finanzindustrie, die die Riester-Sparer seither mit Provisionen und Gebühren schröpft, die wesentlich höher liegen als bei normalen Versicherungspolicen.

Die Einführung der Rente erst ab 67 durch Franz Müntefering war nichts anderes als der nächste brutale Einschnitt in das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rente. Denn die Zukunft wird ohnehin nicht so aussehen, dass lauter rüstige Mittsechziger auf Baugerüsten herumturnen oder dem Kunden bei Saturn die neueste Handygeneration erklären. Schon heute hat nur ein Bruchteil der Menschen jenseits der Sechzig überhaupt noch eine Chance zu arbeiten. Davon können auch die fröhlichen Propagandazahlen nicht ablenken, die Frau von der Leyen verbreitet. Danach seien heute etwa 40 Prozent aller über 60-Jährigen erwerbstätig, deutlich mehr als vor zehn Jahren. Daraus wird geschlossen, dass Ältere am Arbeitsmarkt wachsende Chancen haben und deshalb in Zukunft bequem auch bis 67 rackern können. Was die Arbeitsministerin allerdings verschweigt, ist, um was für Arbeitsverhältnisse es sich in diesen Fällen großenteils handelt: Minijobs, Teilzeit, Scheinselbstständigkeit, meistens mies bezahlt und oft ohne Sozialversicherung.

Dass die Regierung die realen Verhältnisse durchaus kennt, hat sie in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der LINKEN-Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald u. a. zur Beschäftigungssituation Älterer bewiesen. Tatsächlich stehen derzeit weniger als zehn Prozent aller 64-Jährigen noch in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Bei den 60- bis 65-Jährigen sind es im Schnitt 21,5 Prozent. Wer mit 60 arbeitslos wird, hat höchstens noch eine Chance von 20 Prozent, wieder Arbeit zu finden. Alle anderen müssen sich mit ALG I, ALG II und Minijobs bis zum 65. Geburtstag hangeln. Gerade mal 7,5 Prozent der Neurentner von 2008 waren unmittelbar zuvor noch sozialversichert beschäftigt. So beginnt die Rente schon heute für eine Mehrheit mit Abschlägen, eine Situation, die die Rente erst ab 67 weiter verschärfen würde. Wer dann nämlich mit 65 in Rente geht, muss eine lebenslange Rentenkürzung von 7,2 Prozent verkraften. Wen es bereits mit 63 Jahren trifft, muss mit 14,4 Prozent weniger Rente hinkommen. Und genau darum ging es von Anfang an: Um die nochmalige Kürzung der ohnehin schon mickrigen gesetzlichen Rente.

Deshalb ist die Rente erst ab 67 ein verantwortungsloses Projekt, und es ist schlimm genug, dass ausgerechnet Sozialdemokraten ihm den Weg bereitet haben. Die Aussetzung wäre ein erster vernünftiger Schritt. Tatsächlich muss es aber um Wiederherstellung der alten Rentenformel und den Aufbau einer armutsfesten gesetzlichen Rente spätestens ab 65 gehen.