Sahra Wagenknecht

»Freibrief für eine Politik von Lohndumping«

Lissabon-Strategie bedeutet, dem ungehemmten Kapitalismus den Weg bereiten.

20.10.2007
Interview mit Sahra Wagenknecht: Ralf Wurzbacher

Ein Gespräch mit Sahra Wagenknecht in der Tageszeitung "junge welt" am 20.10.07

Sahra Wagenknecht ist Mitglied der Kommu­nistischen Plattform und Abgeordnete der Partei Die Linke im Europa­parlament

Am Mittwoch wird das Plenum des EU-Parlaments über den von Ihnen verfaßten »Bericht zum Beitrag der Steuer- und Zollpolitik zur Lissabon-Strategie« abstimmen. Mit welchem Ergebnis rechnen Sie?

Was im Plenum abgestimmt wird, ist nicht mehr mein Text, sondern das, was der Wirtschaftsausschuß nach seiner Abstimmung davon übriggelassen hat. Mein ursprünglicher Bericht enthielt eine scharfe Kritik an der herrschenden EU-Steuerpolitik, die Konzerne und Reiche mästet und im Gegenzug Beschäftigte und Verbraucher immer stärker zur Kasse bittet. Er enthielt die Forderung nach europaweiten Mindeststeuersätzen für Unternehmensgewinne und nach einer stärkeren Besteuerung von Vermögen und Finanztransaktionen. Davon geblieben sind lediglich eine Kritik an steigenden Mehrwertsteuersätzen und ein unverbindlicher Appell, Steuern gerechter zu verteilen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament ist zu befürchten, daß unsere Anträge auch da keine Mehrheit finden, sondern dieser weichgewaschene Text bestätigt wird.

Erklärtes Ziel der Lissabon-Strategie ist es, die EU zum weltweit »wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum« zu machen. Sie meinen, die EU-Steuerpolitik läuft diesem Anspruch zuwider?

Wie man's nimmt. Der »wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum« ist bloß ein Pseudonym, hinter dem sich die Forderung nach einem ungehemmten Kapitalismus verbirgt. Dazu, daß Profitraten wieder steigen, hat der EU-weite Dumpingwettlauf um immer niedrigere Unternehmenssteuern durchaus beigetragen. Wenn man allerdings gerade denen, die ohnehin schon wenig in der Tasche haben, durch wachsende Steuern auf ihr Einkommen und ihren Konsum immer mehr wegnimmt, muß man sich nicht wundern, daß die Konsumnachfrage dahindümpelt. Das hat mit der Entwicklung der Löhne zu tun, aber auch mit der Steuerpolitik.

Die Lissabon-Strategen formulieren dennoch, die EU solle »Vorbild für wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt« werden.

Das einzige Lissabon-Ziel, mit dem es den Herrschenden wirklich ernst ist, ist die Durchsetzung von »Wettbewerbsfähigkeit«, gemeint als Freibrief für eine Politik von Lohndumping, Deregulierung und Privatisierung. Das spiegelt schlicht die Interessen wider, die das heutige Europa bestimmen. Lobbyverbände wie der »European Roundtable of Industrialists« haben an den meisten EU-Verträgen unmittelbar mitgeschrieben. So sieht das Ergebnis dann eben auch aus.

Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf im Interesse eben eines sozialen und ökologischen Fortschritts?

Zurücknehmen der katastrophalen Liberalisierungspolitik im Bereich Post, Energie und Verkehr und des Privatisierungsdrucks auf kommunaler Ebene. Reaktivierung sozialer Sicherungssysteme, was nicht nur Armut verringern, sondern auch Lohndrückerei erschweren würde. Auf Ebene der Steuerpolitik: eine europäische Mindestquote für die Besteuerung von Gewinnen und Vermögen, die von keinem Land mehr unterschritten werden darf.

Wer sollte solche hehren Konzepte auf politischer Ebene umsetzen, solange die Kapitallobby in Brüssel und Strasbourg das Sagen hat?

Das ist nur mit Druck durchsetzbar. So wie die Hafenarbeiter damals die Liberalisierung der Hafendienste verhindern konnten, indem sie europaweit gestreikt und gekämpft haben, so wäre in Europa durch solidarisch getragene Arbeitskämpfe und Demonstrationen noch sehr viel mehr zu erreichen. Wenn die Herrschenden Angst haben, die Kontrolle zu verlieren, machen sie Zugeständnisse. Sonst nicht.

Ausgerechnet in Lissabon wurde am Donnerstag der sogenannte EU-Reformvertrag, festgezurrt, der den neoliberalen Standortwettbewerb in Quasiverfassungsrang hebt. Ihr Urteil?

Der Reformvertrag ist die alte Verfassung in neuer Verpackung. Als Linke müssen wir klar und konsequent nein zu diesem Vertrag sagen, der Europa auf einen deregulierten und zunehmend militarisierten Kapitalismus festlegen soll. Das ist eine lukrative Perspektive für die oberen zehntausend, aber nicht für die große Mehrheit.