Sahra Wagenknecht

Wider den Wirtschaftsfeudalismus

Vorabdruck aus dem Buch "Reichtum ohne Gier", junge welt vom 10.03.2016

10.03.2016

Sahra Wagenknecht gehört zu den wenigen bundesdeutschen Politikerinnen und Politikern, die ihr Handeln auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen. Die daraus entwickelten Überlegungen für eine Auflösung der aktuellen Krisenerscheinungen stellt die Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Bundestag nun im Campus-Verlag vor unter dem Titel »Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten«. Es ist ein Vorschlag zur Redemokratisierung EU-Europas durch Rückbesinnung auf den Nationalstaat. »Nicht die Politik muss sich internationalisieren«, so Wagenknecht, »sondern die wirtschaftlichen Strukturen müssen dezentralisiert und verkleinert werden«. jW veröffentlicht aus dem neuen Buch einen Auszug aus der Einleitung. (jW)

Wollen wir wirklich so leben, wie wir leben? Wollen wir eine Gesellschaft, in der immer rücksichtsloser der Ellenbogen zum Einsatz kommt, weil jedem jederzeit die Angst im Nacken sitzt, schlimmstenfalls selbst abzustürzen und sich ins graue Heer der Verlierer einreihen zu müssen? Ein Heer, aus dem es allzuoft keine Rückkehr gibt. Wollen wir, dass Unsicherheit und Zukunftssorgen unseren Alltag bestimmen und uns das auch noch als neue Freiheit verkauft wird? Und wenn wir es nicht wollen, warum wehren wir uns nicht? Warum nehmen wir so vieles hin – so viele Zumutungen, so viele Demütigungen, all die Heuchelei, die wir durchschauen, die vielen Lügen, von denen wir wissen, dass es Lügen sind? Warum akzeptieren wir ein Leben, das deutlich schlechter ist, als es mit den heutigen technologischen Möglichkeiten bei einigermaßen gerechter Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums sein könnte? Wir haben doch nur dieses eine.

Finden wir es wirklich normal, dass die Mehrheit unter wachsendem Druck darum kämpfen muss, ihren Lebensstandard auch nur zu halten, während wenige auf immer mondäneren Jachten durch die Weltmeere schippern? Warum finden wir uns damit ab, dass sich trotz allgemeinen Wahlrechts immer wieder eine Politik durchsetzt, die im besten Fall die Interessen der oberen zehn Prozent, oft sogar nur die des reichsten einen Prozents bedient?

Deregulierung und Markteuphorie

Immerhin waren es politische Entscheidungen und Weichenstellungen, die das Gesicht unserer Wirtschaftsordnung im Übergang zum 21. Jahrhundert verändert haben. Sie alle fanden unter dem Slogan: mehr Markt, mehr Wettbewerb, mehr Freiheit, mehr Eigeninitiative, mehr Wachstum statt. Ihr Ergebnis lässt sich auf eine ebenso kurze Formel bringen: weniger Markt, weniger Wettbewerb, mehr leistungslose Abzocke, mehr Abhängigkeit und weniger Wachstum.

Im Kern fanden Veränderungen vor allem auf drei Ebenen statt: Erstens wurden Regeln, die zuvor dem Wirtschaftsleben einen bestimmten Rahmen gegeben hatten und die meist aus schmerzlicher Krisenerfahrung eingeführt worden waren, im Namen des freien Marktes aufgehoben. Auffälligstes, aber keineswegs einziges Beispiel dafür ist der Finanzsektor. In der Folge schossen immer abenteuerlichere Geschäftsmodelle ins Kraut und der vorgeblich befreite Markt wurde von Produkten überflutet, deren Profitabilität schlicht darauf beruhte, die Allgemeinheit zu schädigen. Das gilt im Finanzbereich für nahezu das gesamte heutige Investmentbanking, für die meisten Derivate wie für den Hochfrequenzhandel. Es gilt nicht minder für die Geschäftsidee der Firmenfresser und Konkursjäger oder auch für die globalen Steuersparmodelle, mit denen sich Amazon, Ikea und Co. im Unterschied zu mittelständischen Unternehmen ihren Verpflichtungen für das Gemeinwesen entziehen. All die raffinierten Tricks und Kniffe, die auch die oberen Zehntausend erfolgreich zur Steuervermeidung nutzen, würden ohne die vorangegangene Deregulierung, etwa den Abbau von Kapitalverkehrskontrollen, nicht funktionieren.

Zu den störenden Regeln, derer man sich im Zuge der Deregulierungswelle entledigte, gehörten auch die Kartellgesetze, soweit sie noch einen Rest von Biss zur Verhinderung wirtschaftlicher Macht besaßen. Im Ergebnis all dessen entstanden von der Bankenwelt bis zur Digitalökonomie global aufgestellte, die Märkte und die Gesellschaft beherrschende Unternehmensgiganten, deren Geschäftsentscheidungen heute die Entwicklung der Weltwirtschaft bestimmen. Diese Unternehmen fühlen sich an nichts mehr gebunden und können dank ihrer konzentrierten ökonomischen Macht ihre Interessen auf nahezu jedem Feld und zu Lasten aller anderen Marktteilnehmer durchsetzen. Anstelle eines größeren Wettbewerbsdrucks sind die wirtschaftlichen Ressourcen nach Jahrzehnten der Deregulierung und Markteuphorie in sehr viel weniger Händen konzentriert als zuvor. (…)

Herrschaft des einen Prozents

Wenn auch auf ungleich höherem Produktivitäts- und Wohlstandsniveau, ähnelt die Verteilung von Reichtum und Macht im heutigen Kapitalismus jener Zeit, in der Ludwig XV. mit Madame Pompadour seine rauschenden Feste feierte. Auch im 18. Jahrhundert wie bereits im Mittelalter gehörten etwa ein Prozent der Bevölkerung zur Oberschicht, sie besaßen die entscheidenden wirtschaftlichen Ressourcen, damals vor allem das fruchtbare Ackerland, die Weiden und Wälder. Sie beherrschten das öffentliche Leben, die Rechtsprechung und die Auslegung der Gesetze. Und selbstredend zahlten sie keine Steuern. Die übrigen 99 Prozent der Bevölkerung arbeiteten, direkt oder indirekt, für dieses reichste eine Prozent. Die Vermögen und mit ihnen die gesellschaftliche Stellung wurden nach dem Prinzip von Erblichkeit und Blutsverwandtschaft von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Der Sohn eines Bauern war wieder ein Bauer und der Sohn eines Barons wieder ein Baron, es sei denn, er entschied sich für eine Laufbahn als kirchlicher Würdenträger oder hoher Militär und blieb als solcher Teil der Oberschicht.

Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts konzentrieren sich in der Verfügung des reichsten einen Prozents die wichtigsten wirtschaftlichen Ressourcen, nur dass diese neben Agrarland und Immobilien heute vor allem Industrieanlagen, technisches Know-how, digitale und andere Netze, Server, Software, Patente und vieles mehr umfassen.

Das Eigentum an diesen Ressourcen wird unverändert nach dem Prinzip der Erblichkeit und der Blutsverwandtschaft von einer Generation zur nächsten weitergegeben, seine Erträge werden auch heute in vielen Fällen nahezu steuerfrei eingestrichen, und sie ermöglichen einen Lebensstil, wie er aus Arbeitseinkommen niemals zu erlangen wäre. Erneut arbeiten 99 Prozent der Bevölkerung zum überwiegenden Teil, direkt oder indirekt, für den Reichtum dieses neuen Geldadels.

Man wird einwenden, der entscheidende Unterschied bestehe darin, dass die Wirtschaft in der feudalen Epoche und auch noch in den Zeiten des Absolutismus kaum Fortschritte machte, weil es nur wenige Anreize gab, die Produktivität zu steigern und die Produktionsmethoden zu verbessern. Der Kapitalismus dagegen habe jenen enormen Reichtum geschaffen, der heute das Leben selbst des ärmsten Einwohners der Industriestaaten weit über das Niveau seiner Ahnen aus früheren Jahrhunderten hebt. Richtig, für die Vergangenheit trifft das zu. Aber gilt es auch für Gegenwart und Zukunft? Zwar wandelt sich die Produktion immer noch, die Digitalisierung verspricht enorme Produktivitätsgewinne, neue Verfahren finden Anwendung, neue Produkte kommen auf den Markt. Aber wem nützt eine dynamische Wirtschaft, wenn die Wohlstandsdynamik für die Mehrheit abwärts zeigt? Und wie innovativ ist unsere Wirtschaft tatsächlich noch?

»Diese Wirtschaft tötet«

Jenseits der Wohlstandszentren ist die Lage nahezu hoffnungslos. Zwei Milliarden Menschen leiden auf unserem reichen Planeten, der dank der heutigen technologischen Möglichkeiten eine Weltbevölkerung von zwölf Milliarden Menschen mit allen notwendigen Nahrungsmitteln versorgen könnte, an Mangelernährung, die Hälfte von ihnen hungert. Die UNO warnt, dass in den kommenden 15 Jahren weitere 70 Millionen Kinder noch vor ihrem fünften Geburtstag an Armutskrankheiten, die vermeidbar oder heilbar wären, sterben werden. 70 Millionen Menschen, deren Leben ausgelöscht wird, bevor es richtig begonnen hat, einfach weil ihr Schicksal die politischen Entscheidungsträger der »westlichen Wertegemeinschaft« und ihre Hintermänner in der Wirtschaft nicht interessiert. Dieselben übrigens, die ihre Kriege gern mit dem heuchlerischen Verweis auf Menschenleben und Menschenrechte begründen und damit, dass man bei Tod und Sterben doch nicht zuschauen dürfe. Dabei bräuchte es nach Aussage von Jacques Diouf, Generaldirektor der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft, gerade mal 20 Milliarden Euro pro Jahr, um Hunger und Unterernährung weltweit zu überwinden, einen Bruchteil des Geldes, das für Aufrüstung und Kriege ausgegeben wird.

Die UNO hat schon oft gewarnt, geändert hat sich wenig, und wenn, dann zum Schlimmeren. Einem ärmeren Land nach dem anderen wurden sogenannte Freihandelsabkommen diktiert, die ihre heimische Produktion vernichtet und ihre Märkte zur Beute westlicher Agrarmultis und Industriekonzerne gemacht haben. Millionen Kleinbauern und Gewerbetreibende wurden und werden auf diese Weise um ihre Existenz gebracht. Wenn sie sich dann verzweifelt auf den Weg in wohlhabendere Länder machen, spricht man verächtlich von Wirtschaftsflüchtlingen. Aber es ist unsere Wirtschaft, es sind unsere Konzerne, die ihre Lebensgrundlagen zerstört und sie in die Flucht getrieben haben.

»Diese Wirtschaft tötet«, hat Papst Franziskus der Kirche und der Weltöffentlichkeit ins Stammbuch geschrieben. Wer Belege für diese Aussage sucht, in den abgehängten Ländern der sogenannten Dritten Welt kann er sie tagtäglich finden. Richtig, auch in früheren Jahrhunderten gab es Hungertote, wenn extreme Dürren oder andere Naturkatastrophen für Missernten sorgten. Aber dass in einer Welt des Überflusses, in der ein erheblicher Teil der Nahrungsmittel noch nicht einmal gegessen, sondern weggeworfen wird, Jahr für Jahr Millionen Menschen aus Nahrungsmangel einen qualvollen Tod sterben, diese Perversion hat erst die kapitalistische Weltordnung hervorgebracht. (…)

Wir brauchen, was die Neoliberalen sich so gern auf die Fahne schreiben, aber in Wirklichkeit zerstören: Freiheit, Eigeninitiative, Wettbewerb, leistungsgerechte Bezahlung, Schutz des selbsterarbeiteten Eigentums. Wer all das will und es ernst meint, muss eine Situation beenden und nicht befördern, in der die entscheidenden wirtschaftlichen Ressourcen und Reichtümer einer schmalen Oberschicht gehören, die automatisch auch von jedem Zugewinn profitiert. Einer Oberschicht, die sich mit ihrer Macht, über Investitionen und Arbeitsplätze zu entscheiden, mit ihrem Medieneinfluss, ihren Thinktanks und Lobbyisten, mit ihrer Kampagnenfähigkeit und schlicht mit ihrem unermesslich vielen Geld nahezu jede Regierung dieser Welt unterwerfen oder kaufen kann. (…) Der Kern der Macht der oberen Zehntausend und der Ursprung ihrer leistungslosen Bezüge ist die heutige Verfassung des Wirtschaftseigentums. In einer veränderten Gestaltung des wirtschaftlichen Eigentums liegt folgerichtig der Schlüssel zu einer neuen Perspektive. Reformvorschläge, die diese Ebene ausklammern, können zwar Verbesserungen in Einzelbereichen erreichen. Aber sie enden in den meisten Fällen doch wie die diversen Anläufe zur Bankenregulierung: weichgespült, zahnlos gemacht und dann trickreich umgangen.

EU – ein Technokratensumpf

Das ist auch eine Folge des Machtungleichgewichts zwischen der auf das eigene Territorium begrenzten Regelungsbefugnis der Staaten und dem längst globalen Radius der großen Wirtschaftsplayer. Viele glauben, man könne die Demokratie dadurch zurückgewinnen, dass die politische Entscheidungsebene der Wirtschaft folgt und sich ebenfalls globalisiert oder wenigstens europäisiert. Aber das ist naiv. Demokratie lebt nur in Räumen, die für die Menschen überschaubar sind. Nur dort hat der Demos eine Chance, mit politischen Entscheidungsträgern auch in Kontakt zu kommen, sie zu beaufsichtigen und zu kontrollieren. Je größer, inhomogener und unübersichtlicher eine politische Einheit ist, desto weniger funktioniert das. Kommen dann noch Unterschiede in Sprachen und Kulturen hinzu, ist es ein aussichtsloses Unterfangen.

Demokratie und Sozialstaat wurden aus gutem Grund im Rahmen einzelner Nationalstaaten erkämpft, und sie verschwinden mit dem Machtverlust ihrer Parlamente und Regierungen. Es ist kein Zufall, dass die Brüsseler Institutionen zu jenem unrühmlichen, undurchsichtigen und mehr als jede Staatsregierung von Konzernlobbyisten gesteuerten Technokratensumpf verkommen sind, zu dem die große Mehrheit der Europäer jedes Vertrauen verloren hat.

Bei den meisten dieser Institutionen hat man auf eine demokratische Legitimierung von vornherein verzichtet. Aber auch an den Wahlen zum Europäischen Parlament, das immerhin alle fünf Jahre gewählt werden kann, beteiligt sich kaum ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger, ungleich weniger als bei jeder Wahl zu einem nationalen Parlament. Das liegt nicht in erster Linie daran, dass das Europäische Parlament nur beschränkte Kompetenzen hat. Im Gegenteil, seine Mitentscheidungsrechte sind in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet worden, während seine demokratische Legitimierung aufgrund der sinkenden Wahlbeteiligung immer weiter zurückging.

Der Hauptgrund dieses Desinteresses dürfte sein, dass das EU-Parlament einfach viel zu fern, viel zu wenig erfahrbar und der Lebensrealität der Bevölkerung in den einzelnen Ländern viel zu stark entfremdet ist, als dass die Menschen irgendeine seiner aus heterogenen Parteien zusammengewürfelten Fraktionen als ihre Stimme und persönliche Interessenvertretung empfinden könnten.

Bundestagsabgeordnete haben zumindest noch einen Wahlkreis, in dem sie ansprechbar sind. Aber niemand kennt »seinen« Abgeordneten im Europaparlament, denn es gibt ihn nicht. Es ist daher auch kein Zufall, dass etwa in Berlin auf einen Abgeordneten acht Lobbyisten kommen, das Verhältnis in Brüssel dagegen bei eins zu zwanzig liegt. Wo demokratische Kontrolle versagt, gedeiht der Sumpf von Korruption und gekaufter Politik. Und so sieht die politische Agenda dann auch aus.

Redemokratisierung der Staaten

Es existiert daher auf absehbare Zeit vor allem eine Instanz, in der echte Demokratie leben kann und für deren Redemokratisierung wir uns einsetzen müssen: Das ist der historisch entstandene Staat mit seinen verschiedenen Ebenen, von den Städten und Gemeinden über die Regionen oder Bundesländer bis zu den nationalen Parlamenten und Regierungen.

Natürlich wäre es sinnvoll und gut, wenn sich die europäischen Länder in bestimmten Fragen an gemeinsame Regeln halten würden, vom Umwelt- und Verbraucherschutz bis zur Unternehmensbesteuerung. Aber um Einigkeit in solchen Fragen zu erzielen, braucht es keine arrogante EU-Kommission, die sich in staatliche Souveränitätsrechte einmischt, und schon gar keinen EZB-Chef, der selbstherrlich in die einzelnen Länder hineinregiert. Notwendig und ausreichend dafür wäre eine europaweite Abstimmung zwischen gewählten Regierungen. Auch lässt sich nicht übersehen, wie unzureichend die Regeln sind, die die Europäische Union bisher trotz Außerkraftsetzung staatlicher Souveränität in den tatsächlich wichtigen europäischen Belangen erreicht hat. Während die Staaten sich unverändert bei Unternehmens- und Vermögenssteuern einen Dumpingwettbewerb liefern, wird ihnen von Brüssel vorgeschrieben, wie sie ihre Haushaltspolitik zu gestalten haben und dass sie ihre kommunalen Dienste für internationale Konzerne öffnen müssen.

Hayeks Europa-Projekt

Dass europäische Verträge und Institutionen ein praktikabler Hebel sein können, die Politik in den einzelnen Ländern unabhängig von Wahlergebnissen auf eine konzernfreundliche Agenda zu verpflichten, davon war bereits der beinharte Neoliberale Friedrich August von Hayek überzeugt. Aus diesem Grund hat er die Idee eines europäischen Bundesstaates, der den einzelnen europäischen Staaten übergeordnet ist, mit Verve vertreten – nicht, um politische Gestaltungsfähigkeit zu gewinnen, sondern um politische Gestaltung und damit Demokratie zu verhindern. Hayek hat recht, wenn er schreibt: »[…] alles in allem ist es wahrscheinlich, dass in einem [europäischen] Bundesstaat die Macht des Einzelstaates über die Wirtschaft allmählich viel weitgehender geschwächt würde und auch sollte [!], als es zunächst offenbar sein wird.« (…)

Es ging Hayek und es geht den falschen Europäern unserer Zeit, die dem Abbau staatlicher Souveränitätsrechte das Wort reden, also nicht um die europäische Idee oder um europäische Werte. Ein wichtiger solcher Wert ist ja gerade die Demokratie, die mittels der europäischen Verträge und Institutionen geschliffen wird. In diesem Sinne kann man die Europäische Union sogar als ein antieuropäisches Projekt ansehen. Denn spätestens seit dem Maastricht-Vertrag dominiert das Ziel, die Politik in den einzelnen Ländern gegenüber demokratischen Wahlergebnissen und deren Unkalkulierbarkeit zu immunisieren. In einer marktkonformen Demokratie entscheiden die Konzerne alles und der Demos nichts mehr.

Im Rahmen des einzelnen Staates, das wusste schon Hayek, ist das in Europa mittlerweile schlecht zu erreichen. Trotz aller Korruption und Geldmacht sind die europäischen Staaten immer noch demokratisch verfasst. Die Parlamente und in einigen Ländern auch die Staatschefs werden in gewissen Abständen direkt gewählt, und es steht der Bevölkerung frei, korrupte Politiker und unbeliebte Parteien in die Wüste zu schicken. Dieses demokratische Recht verliert allerdings seine Relevanz, wenn die Bevölkerung nicht mehr die Chance hat, ein anderes Regierungsprogramm zu wählen, wenn also Regierungen, egal welche Parteien sie bilden, über ihre Politik nicht mehr souverän entscheiden können.

Der sicherste Weg, diese Souveränität zu beseitigen, ist die Etablierung transnationaler Verträge und Institutionen, die den demokratisch verfassten Staaten übergeordnet sind und von ihnen respektiert werden müssen. Wenn Hayek die Europäische Union unserer Zeit noch erlebt hätte, wäre er vermutlich sehr zufrieden gewesen. Sein Programm der Entdemokratisierung Europas ist weit vorangekommen. Vollendet würde es mit der Annahme und Ratifizierung von Verträgen wie CETA und TTIP, die die politischen Handlungsspielräume endgültig beseitigen würden.

Wenn wir wieder in wirklich demokratischen Gemeinwesen leben wollen, gibt es daher nur den umgekehrten Weg. Nicht die Politik muss sich internationalisieren, sondern die wirtschaftlichen Strukturen müssen dezentralisiert und verkleinert werden. Wir brauchen globalen Austausch und Handel, aber wir brauchen keine modernen Räuberbarone, die auf drei oder vier Kontinenten produzieren lassen und sich jeweils die Orte mit den billigsten Löhnen und den niedrigsten Steuern aussuchen können. Schon John Maynard Keynes, Hayeks alter Kontrahent, war überzeugt: »Ideen, Kunst, Wissen, Gastfreundschaft und Reisen sollten international sein. Dagegen sollten Waren lokal erzeugt werden, wo immer dies vernünftig möglich ist; vor allem aber die Finanzen sollten weitgehend im nationalen Kontext verbleiben.«

Globalkapitalismus auflösen

Verkleinerung ist auch aus Gründen der Effizienz und Innovationskraft unserer Wirtschaft geboten. Immerhin zerstören die Giganten mit ihrer Marktmacht nicht nur demokratische Gestaltungshoheit, sondern auch echten Wettbewerb. Nichts spricht gegen Unternehmenskooperationen bei bestimmten Entwicklungsprojekten. Das findet auch heute über Unternehmensgrenzen hinweg statt. Aber es ist ein ordnungspolitischer Sündenfall, wenn ein beträchtlicher Teil der europäischen Automobilproduktion oder Pharmaindustrie eigentumsrechtlich miteinander verflochten ist oder wenn ein britischer Anbieter einen Großteil der Kommunikationsdienste in ganz Europa unter seinen Fittichen hat. Ebenso unsinnig ist es, wenn ein deutsches Unternehmen griechische Flughäfen betreibt und ein schwedischer Konzern für die Energieversorgung deutscher Städte und Gemeinden zuständig ist.

Der Globalkapitalismus unserer Zeit lässt sich im nationalen Rahmen kaum noch bändigen. Demokratisch legitimierte europäische oder auch internationale Institutionen, die das leisten könnten, gibt es nicht und kann es wohl auch nicht geben. Wenn wir wirklich besser leben wollen, geht es daher nicht bescheidener oder kleiner: Dann müssen wir unsere Demokratie und die Marktwirtschaft vor dem Kapitalismus retten und die Gestaltung einer neuen Wirtschaftsordnung in Angriff nehmen.