Brauchen wir einen neuen Marx?
Gastbeitrag von Sahra Wagenknecht zum 200. Geburtstag von Karl Marx, erschienen im ZDF-Portal heute.de am 05.05.2018
Vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren. Seitdem ist die Welt in vieler Hinsicht eine andere geworden. Brauchen wir einen "neuen Marx", um aktuelle Entwicklungen zu begreifen? Nun ja, große Denker und schonungslose Analytiker haben noch keinem Zeitalter geschadet. Aber genauso wahr ist: Marx ist immer noch aktuell. Er hat die inneren Widersprüche, die Bewegungsgesetze, die Krisen des Kapitalismus nicht nur als Erster klar analysiert. Er bietet bis heute ein unersetzliches theoretisches Instrumentarium, um zu verstehen, wie unsere Wirtschaft funktioniert.
Noch immer gilt: Aus Geld mehr Geld machen
Denn trotz aller Veränderungen: Noch heute leben wir in einer Wirtschaftsordnung, die um den Selbstzweck kreist, aus Geld mehr Geld zu machen. Die nach der Logik des "immer mehr" funktioniert. Heute werden Produkte von den Herstellern teilweise extra so konstruiert, dass sie nach relativ kurzer Zeit kaputt gehen und sich kaum reparieren lassen. Damit möglichst schnell das nächste Modell verkauft werden kann. Ökologisch ist das verheerend. Um den Zugang zu Rohstoffen werden Kriege geführt. Milliarden werden für Rüstung verschleudert. Das große Geld kauft sich die Politik, die seinen Interessen nützt.
Noch immer befinden sich entscheidende wirtschaftliche Ressourcen – von Fabriken und Kraftwerken über Software bis hin zu digitaler Infrastruktur und Information – in der Hand einer kleinen, privilegierten Minderheit. Niemand kann sich ein Vermögen von hunderten Millionen oder Milliarden selbst erarbeiten. Dass es Privatvermögen in dieser Größenordnung überhaupt gibt, zeigt, dass einige die Macht haben, sich die Arbeit anderer anzueignen und davon reich zu werden. Oft ohne eigene Leistung, denn was den Kapitalisten vom Unternehmer unterscheidet, ist ja gerade, dass er in dem oder den Unternehmen, von dessen Erträgen er profitiert, keine produktive Rolle mehr spielt. Deshalb können auch Finanzinvestoren und Hedge Fonds heute Eigentümer von Unternehmen sein. Gerade dann dreht sich in der Regel alles nur noch um die Erhöhung der Rendite. Leidtragende sind die Beschäftigten, deren Löhne durch Tarifflucht oder Leiharbeit gedrückt werden oder deren Leistungsstress erhöht wird.
Mehr Dividende seit Agenda 2010
Auch diesen Interessengegensatz gibt es seit Marx: Je schlechter die bezahlt werden, die den gesellschaftlichen Reichtum erarbeiten, desto üppiger fließen Gewinne. In Deutschland, wo die Agenda 2010 einen großen Niedriglohnsektor geschaffen hat und viele von ihrer Arbeit nicht mehr gut leben können, werden seither mehr Dividenden ausgeschüttet als je zuvor.
Marx' Theorie erklärt, warum Wirtschaftskrisen im Kapitalismus immer wieder auftreten. Manche seiner Analysen – etwa zur Globalisierung, zu Konzentrationsprozessen oder zum "fiktiven Kapital", das der scheinbaren Verselbständigung der Finanzsphäre zugrunde liegt – sind heute sogar aktueller als vor 200 Jahren. Marx liefert auch Hinweise, warum so viele den Kapitalismus als alternativlos begreifen. "Geld regiert die Welt" ist ein geläufiges Sprichwort. Aber Kapital ist mehr als nur Geld. Es ist ein Verhältnis zwischen Menschen. Ein Herrschaftsverhältnis, das uns als scheinbarer "Sachzwang" gegenüber tritt. Doch Herrschaftsverhältnisse sind keine Naturgewalt, sie werden von Menschen geschaffen und sind durch Menschen änderbar.
Lösung bleibt die Herausforderung
Finden wir bei Marx fertige Lösungen für unsere Probleme? Leider nein. Marx war ein Analytiker, kein Prophet. Er hat uns nur wenige Anregungen für eine Alternative zum Kapitalismus hinterlassen. Sie kreisen um eine veränderte Gestaltung des Wirtschaftseigentums. In Zukunft soll, so Marx, privates Eigentum den individuellen Lebensbereich schützen, aber nicht mehr gesellschaftliche Machtstellungen. Neue Formen des Wirtschaftseigentums sollten zu Anstrengung, Kreativität und Leistung motivieren, aber nicht länger individuelle Bereicherung auf Kosten anderer ermöglichen. Ideen zu entwickeln, wie ein vernünftiges Wirtschaftseigentum, das diese Kriterien erfüllt, aussehen kann, überlässt er uns. Wir sollten seine Herausforderung annehmen.