Estland und der Kalte Krieg
Gastkolumne von Sahra Wagenknecht in der sozialistischen Wochenzeitung UZ
Exakt 62 Jahre nach dem Sieg der antifaschistischen Kräfte über Nazi-Deutschland, am 9. Mai, hatte das Europäische Parlament nichts Besseres zu tun, als eine Russland-Resolution zu verhandeln, in der unter anderem die Europäische Union aufgefordert wird, "Solidarität mit Estland im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen in Tallinn zu zeigen". Kein Wort der Kritik hingegen an dem ungeheuerlichen Vorgang, dass in Estland ein zentrales antifaschistisches Denkmal vom Zentrum der Hauptstadt auf einen abgelegenen Friedhof umgelagert worden ist und dass bei den Protesten ein junger Mann zu Tode kam.
Kein bedauerndes Wort über die Praxis führender Politiker Estlands, sich positiv auf die faschistische Kollaboration mit Nazi-Deutschland zu beziehen, keine Erwähnung der entrechteten russischen Minderheiten auf baltischem EU-Territorium, keine Kritik daran, dass Estland mit seinem Vorgehen in Tallinn auf klare Provokation setzt und Eskalationen bereitwillig in Kauf nimmt. Im Gegenteil: Nach der NATO versichert nun auch die EU Estland pauschal, undifferenziert und simpel seiner Solidarität.
Deutlicher könnte man nicht zeigen, wie sehr man damit einverstanden ist, einen neuen Kalten Krieg zwischen West und Ost voranzutreiben, denn nichts anderes hat Estland, unterstützt durch die EU, mit dieser neuesten unsäglichen Episode der anti-russischen Provokation gewollt und getan. Dass das Vorgehen zeitlich mit dem Tag des Sieges einherging, passte umso besser in die Strategie, ist dies doch eine zusätzliche Niedertracht gegenüber Russland, das gerade seinen zentralen Feiertag begeht.
Die aktuellen Ereignisse in Estland und die EU-Reaktion darauf zeigen einmal mehr, welch reaktionäre rechte Kräfte die EU-Politik im Europäischen Parlament mittlerweile mitbestimmen. Unter maßgeblichem Einfluss aus Osteuropas reaktionären Kreisen mischt sich ein gefährliches Sentiment zusammen, das nicht nur in antikommunistischen Reflexen verharrt, sondern auf eine Politik der neuen Eiszeit zwischen Ost und West setzt, anti-russische Stimmungsmache betreibt und selbst den antifaschistischen Grundkonsens zunehmend hinterfragt, ja teils offen mit antidemokratischen und faschistoiden Anschauungen sympathisiert. Der entehrende Umgang mit dem Bronzesoldaten in Estland ist Ausdruck eines immer unverfroreneren Umgangs mit der antifaschistischen Verpflichtung der Vergangenheit.
Solange die EU chauvinistische und nationalistische Überheblichkeit, wie sie in Estland, aber bei weitem nicht nur dort, zum Ausdruck kommt, billigt, fördert und gutheißt, bereitet sie den Nährboden für Hass und Gewalt und setzt auf Konflikt. Die EU spielt mit dem Feuer.