Sahra Wagenknecht

Bis heute habe ich die Solidarität nicht vergessen

Redebeitrag von Sahra Wagenknecht auf der Konferenz "Geschichte in Geschichten" vom 4. Oktober 2009

04.10.2009

1989 hatte ich die Hälfte meines bisherigen Lebens gelebt. Ich war in jenem Jahr Mitglied der SED geworden, in dem ein Großteil der Mitglieder sie verließ. Sozialismus fand ich vernünftig und den Kapitalismus das Gegenteil von Vernunft. Ich wünschte mir in der DDR vieles anders und besser, aber ich wollte kein Zurück zu kapitalistischen Verhältnissen. Entsprechend skeptisch war ich, als auch die PDS "Ja" zur deutschen Einheit sagte. Denn daß auch der westdeutsche Kapitalismus nach dem Verschwinden der DDR nicht bleiben würde, wie er war, war absehbar. Ich kam sehr früh zur Kommunistischen Plattform, weil ich mir die PDS linker, konsequenter und kämpferischer wünschte. Ich wollte, daß sie zu einer machtvollen Kraft des Widerstands und der Gegenwehr wird, stark genug, dem wieder allein herrschenden, siegestrunkenen Kapitalismus die Freude an seinem Sieg zu verderben. Mich dafür zu engagieren, war meine Motivation, im Alter von 22 Jahren in die aktive Politik einzusteigen.

Die Marx-Gesamtausgabe hatte ich mir zu meinem 18. Geburtstag schenken lassen und ausführlich studiert. Zeitgleich hatte ich Hegel gelesen, Kant, Aristoteles. Natürlich auch Luxemburg, Hilferding und Georg Lukács. Und Goethe ohnehin. Meine Weltsicht und Wertvorstellungen kamen primär aus der Theorie. Als ich 1991 Mitglied des PDS-Parteivorstandes wurde, wollte ich den Bereich Programmatik verantworten und meinen Beitrag für ein an Marxschen Ideen orientiertes, klar antikapitalistisches PDS-Programm leisten. Da mußte ich erleben, daß Positionen wie die meinen eher nicht gefragt waren.

Nach Erscheinen meines Artikels "Marxismus und Opportunismus", der in den Weißenseer Blättern 1992 veröffentlicht worden war, stand ich plötzlich am Pranger, als hätte ich die Stalinschen Schauprozesse und Gulags höchstpersönlich befehligt. Dabei ging es in dem Artikel im wesentlichen um die ökonomischen Reformversuche in der DDR der 60er Jahre, das Neue Ökonomische System, dessen Abwürgen 1971 meines Erachtens wesentlich für das Siechtum der DDR-Wirtschaft in den Honeckerjahren verantwortlich war. Dieser Ansicht bin ich bis heute. Allerdings standen am Anfang dieses Artikels auch drei in Trotz und Wut über rechte Geschichtsverfälschung hingeworfene Sätze zu Stalin, die nicht minder einseitig waren als die Geschichtsschreibung des Mainstreams, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Vorwand genug für André Brie, mir vorzuwerfen, ich wolle in der PDS eine "primitive, menschenverachtende stalinistische Ideologie durchsetzen" und verkörpere einen "Mangel an jeglicher Kultur". "Ich weiß nicht", so Brie weiter, "wie weit S. Wagenknecht gehen würde ... Vor dem Zwecke der Menschheitsbefreiung zählt das Leben Andersdenkender nicht, oder seine Vernichtung wird sogar zum notwendigen Mittel zum Zweck. Gehe ich in der Auseinandersetzung zu weit?"

Ich war damals 23 Jahre alt. In der Folge hatte ich viele Diskussionen, war bei Gabo Lewin zu Gast, der achtzehn Jahre unter Stalin im Lager war, besuchte die Mebels, die mir über auch sehr bittre Erfahrungen berichteten, die sie besonders in der SU der dreißiger Jahre gemacht hatten. Das half mir, von Vereinfachungen wegzukommen, und ich freue mich, daß Sonja und Moritz heute hier sind. Bis heute habe ich die Solidarität nicht vergessen, die mir von vielen Genossinnen und Genossen entgegengebracht wurde, denn die gegen mich und zugleich die KPF losgetretene Kampagne, die dann auch von den bürgerlichen Medien voll aufgegriffen wurde, ging bis zur ersten Tagung des vierten Parteitages der PDS im Januar 1995, in der ich unter massivem Druck der Parteispitze aus dem Parteivorstand abgewählt wurde. Und bis heute werden die alten Denunziationen immer wieder aus der Schublade gezogen. Ich habe damals vor allem zwei Dinge gelernt: Zum einen, daß man vieles durchsteht, wenn man auf Solidarität zählen kann. Und zum anderen, daß Einseitigkeiten und Verabsolutierungen nichts bringen. Das ist nicht taktisch gemeint, sondern betrifft zutiefst den theoretischen Anspruch, nicht nur im Umgang mit der Geschichte.

Inzwischen sind wiederum annähernd anderthalb Jahrzehnte vergangen. Sie bestätigten und bestätigen unsere gemeinsame Überzeugung, daß Sozialismus vernünftig und Kapitalismus nicht nur unvernünftig, sondern existentiell zerstörerisch ist. In der Zwischenzeit habe ich mich sehr intensiv mit ökonomischen Fragen beschäftigt und auch ein Buch zu den Ursachen der Wirtschafts- und Finanzkrise – "Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft" – geschrieben. "Unversehens", heißt es da, "sind die zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in die Tageszeitungen und Talkshows zurückgekehrt. ... Tatsächlich gibt es zwischen den zwanziger Jahren und den Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit beunruhigende Parallelen. Damals wie heute war die Einkommensverteilung in den Industrieländern immer ungleicher geworden und hatte schließlich perverse Ausmaße erreicht. 1929 wurde in den USA ein Drittel aller Einkommen von 5% der Bevölkerung eingestrichen. Die reichsten 1% besaßen 36 Prozent des gesamten Geldvermögens. Heute liegt deren Vermögensanteil bei etwa der Hälfte und auch die Konzentration der Einkommen ist annähernd so hoch wie damals. ... Geschichte wiederholt sich nur dann nicht, wenn man aus ihr klug wird und, solange es noch nicht zu spät ist, denen mit aller Kraft widersteht, die auch hundert Jahre später zu der gleichen Unterdrückung und den gleichen Verbrechen fähig wären, wenn nur das noch Profit verspricht. Die Überwindung des Kapitalismus ist nicht nur eine Frage von Produktion und Verteilung. Sie könnte sehr schnell wieder zu dem werden, was sie zu Luxemburgs Zeit und danach schon einmal war: eine Frage von Zivilisation oder Barbarei. Damals siegte die Barbarei."

Zivilisation verlangt die Überwindung des Profitsystems und somit eine sozialistische Perspektive. Große Hoffnungen liegen derzeit in den Entwicklungen lateinamerikanischer Staaten. In Venezuela bin ich persönlich mehrfach gewesen und habe erlebt, in welchem Grade die über Jahrzehnte trotz Ölreichtum verarmte Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung die seit Chávez' Regierungsantritt durchgesetzten Veränderungen als Befreiung empfindet. In Europa dagegen scheinen die Verhältnisse noch versteinert. Neofaschisten gewinnen wieder eine Stärke, die erschrecken läßt. Bei meinen Wahlkampfveranstaltungen in NRW war ich mehrfach mit organisiert angereisten Neonazis, dreißig bis vierzig an der Zahl, konfrontiert. Es ist ein Gemisch aus Angst, Beklemmung und Entsetzen, wenn man diese braunen Horden skandieren hört. Und man fragt sich: Soll das wirklich alles noch einmal kommen?

Ich denke, das kann und das muß verhindert werden. Auch deshalb engagiere ich mich heute für eine konsequente und glaubwürdige LINKE, die die Menschen nicht enttäuscht, die unbestechlich für soziale Interessen kämpft und den Mut behält, die Eigentums- und die Systemfrage zu stellen. Gerade jetzt in dieser noch längst nicht ausgestandenen und für die Lebensverhältnisse von Millionen desaströsen Wirtschaftskrise ist das wichtiger – und naheliegender! – denn je.