"Leiharbeit ist moderne Sklaverei!"
Rede von Sahra Wagenknecht in der Bundestagsdebatte über Leiharbeit am 22.09.2016
Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Nahles! Leiharbeit ist demütigend. Leiharbeiter sind Beschäftigte zweiter Klasse, in der Regel mit weniger Rechten, deutlich weniger Geld und oft genug ungeschützt Schikanen ausgesetzt. Leiharbeit bedeutet ständige Lebensunsicherheit; denn Leiharbeiter sind immer die Ersten, die entlassen werden, und das Versprechen von der Brücke in den Arbeitsmarkt ist längst von der Realität widerlegt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt nicht!)
Leiharbeit macht auch arm. Zwei Drittel aller Leiharbeiter arbeiten zu Niedriglöhnen. Viele sind Aufstocker. Im Schnitt liegt der Lohn vollzeitbeschäftigter Leiharbeiter bei 1 747 Euro pro Monat. Ich glaube, es können sich einige nicht vorstellen, wie man davon leben kann und dass man deswegen später im Alter arm sein wird. Leiharbeit wird natürlich auch eingesetzt, um Stammbelegschaften zu disziplinieren, als Drohung, um Lohnforderungen niedrig und Arbeitnehmer gefügig zu halten. Zu Recht empfinden viele Betroffene Leiharbeit als moderne Sklaverei. Deshalb bleibt die Linke dabei: Solche Lohndrückerinstrumente haben in diesem Land nichts zu suchen. Das gehört verboten, und zwar längst.
(Beifall bei der LINKEN)
Tatsächlich war das früher auch einmal verboten. Noch in den 60er-Jahren gab es in Deutschland überhaupt keine Leiharbeit. Später war sie nur unter ganz strengen Einschränkungen erlaubt. Aber die Möglichkeit, in Größenordnungen reguläre Jobs durch mies bezahlte Leiharbeitsverhältnisse zu ersetzen, um dann die Aktionäre mit höheren Dividenden verwöhnen zu können, war über viele Jahrzehnte gesetzlich ausgeschlossen.
Frau Nahles, man muss natürlich auch sagen: Dass sich das geändert hat, liegt nicht daran, dass die Unternehmen vergessen haben, wofür Leiharbeit einmal da war, sondern daran, dass die gesetzliche Grundlage verändert wurde, nämlich 2002 unter Rot-Grün. Damals wurden die Schleusen geöffnet. Seither boomt die Branche. Fast 1 Million Menschen arbeiten heute in diesen Lohndumpingjobs. Jede dritte offene Stelle im angeblichen Jobwunderland Deutschland ist eine Stelle in der Leiharbeit. Deswegen muss dieser rote Teppich für Renditejäger endlich wieder eingerollt werden.
(Beifall bei der LINKEN)
"Wir werden das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit und der gleichen Arbeitsbedingungen für Leiharbeitsbeschäftigte und Stammbelegschaften gesetzlich durchsetzen."
Das hat die SPD 2013 ihren Wählerinnen und Wählern versprochen. Nun, auf die Einlösung dieses Versprechens haben die 1 Million Leiharbeiter umsonst gehofft. Ich finde, dass das, was Sie, Frau Nahles, hier vorlegen, wirklich eine Verhöhnung der Betroffenen ist. Wenn ich höre, was Sie gerade hier erzählt haben, gerade im ersten Teil Ihrer Rede, kann ich dem zwar zustimmen, aber ich frage mich: Haben Sie Ihren eigenen Gesetzentwurf überhaupt nicht gelesen,
(Beifall bei der LINKEN)
oder sind Sie inzwischen so routiniert darin, den Leuten wider besseres Wissen Unsinn zu erzählen, dass Ihnen das gar nichts mehr ausmacht?
(Christine Lambrecht (SPD): Unerhört! - Weitere Zurufe von der SPD)
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit - ja, richtig. Nach 9 Monaten sollen Leiharbeiter in Zukunft den gleichen Lohn bekommen, mit entsprechendem Tarifvertrag sogar erst nach 15 Monaten. Dumm nur, dass die Hälfte aller Leiharbeiter maximal 3 Monate im Unternehmen ist, und bei zwei Dritteln endet das Leiharbeitsverhältnis nach 6 Monaten. Das heißt, diese Menschen haben überhaupt nichts von diesem neuen Gesetz.
Es ist richtig: Länger als 18 Monate darf ein Betrieb in Zukunft einen Leiharbeiter nicht mehr auf derselben Stelle beschäftigen. Aber danach muss der Arbeitsplatz nicht etwa mit einem regulär Beschäftigten besetzt werden. Nein, der Betrieb muss sich einfach nur einen neuen Leiharbeiter suchen. Und nach drei Monaten Karenzzeit kann er den alten Leiharbeiter - natürlich wieder zum halben Lohn; denn die Rechnung mit neun Monaten fängt ja wieder von vorne an - sogar wieder auf derselben Stelle einsetzen. Das alles geschieht ganz legal und mit dem Segen von Frau Nahles. Im Klartext: Unternehmen können in Zukunft unbegrenzt Leiharbeitskräfte beschäftigen. Sie müssen sie nur spätestens nach 18 Monaten austauschen. Ich finde, das ist das Gegenteil von gleicher Bezahlung, von gleichem Lohn und Gleichbehandlung. Und darauf sind Sie auch noch stolz. Ich finde das unglaublich.
(Beifall bei der LINKEN)
Es geht ja nicht nur um Leiharbeit.
"Wir wollen klarer fassen, was ein echter und was ein Schein-Werkvertrag ist und die Sanktionen bei Missbrauch verschärfen."
Auch das hat die SPD 2013 ihren Wählern versprochen. Auch die Einlösung dieses Versprechens bleibt sie schuldig. Frau Nahles, in ihrem ersten Gesetzentwurf vom November letzten Jahres hatten Sie immerhin noch ein paar Kriterien für Scheinwerkverträge definiert. Es war aber wenig überraschend, dass die Arbeitgeber dagegen Sturm liefen, speziell die der Elektro- und der Metallbranche, die ja besonders gerne solche Werkverträge einsetzen. Sie liefen nicht nur Sturm, sie öffneten vor allem ihre Schatullen. Am 11. Dezember letzten Jahres erhielt die CDU eine Großspende von 150 000 Euro vom Arbeitgeberverband Südwestmetall. Am gleichen Tag flossen vom gleichen Absender 60 000 Euro an die SPD, und eine Woche später wurde die CSU vom Verband der Bayerischen Metall- und Elektro-Industrie mit einer Spende von 358 000 Euro bedacht. Das Geld war offenbar gut investiert;
(Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Was wollen Sie jetzt damit sagen?)
denn Anfang 2016 - das ist natürlich nur eine zufällige zeitliche Abfolge - wurden sämtliche Kriterien, anhand derer man Scheinwerkverträge identifizieren und entsprechend verbieten könnte, aus dem Gesetzentwurf gestrichen. Ohne Kriterien für Scheinwerkverträge gibt es natürlich auch keine Sanktionen für Unternehmen, die illegale Arbeitnehmerüberlassung betreiben.
Es geht sogar noch weiter: Das neue Gesetz schafft zusätzlich ein Extraschlupfloch für kriminelle Unternehmen, welches ihnen in Zukunft das Risiko erspart, sich strafbar zu machen und Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen zu müssen. Die Unternehmen brauchen lediglich eine - selbstverständlich ganz und gar freiwillige - Unterschrift der Beschäftigten, dass sie auf jeden Widerspruch verzichten, weil sie keine Festanstellung anstreben würden. Das ist in etwa so, als würden Sie einem Vermieter erlauben, sich aus den Bestimmungen des Mietrechts zu verabschieden, wenn er dafür die Unterschrift eines potenziellen Mieters beibringt. So kann man letztlich den gesamten Rechtsstaat entsorgen. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass Sie so etwas vorlegen. Der Missbrauch von Werkverträgen wird so nicht erschwert oder gar verhindert. Den Missbrauchtreibenden wird ein Freibrief ausgestellt. Ich finde, das ist wirklich ein Skandal.
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist schlimm genug, dass die CDU das mitträgt. Aber dass die Sozialdemokratie so etwas mitträgt! Das können Sie doch nicht ernsthaft Ihren Wählerinnen und Wählern zumuten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sagen Sie jetzt nicht, Sie hätten ja Besseres gewollt, aber mit der Union sei das leider nicht möglich gewesen. Das mag ja sogar so sein. Aber die Fesseln der Großen Koalition haben Sie sich doch freiwillig angelegt. Noch gäbe es im Bundestag andere Mehrheiten. Wenn Sie aber weiterhin mit solchen Gesetzen oder mit dem Abfeiern von Konzernschutzabkommen wie CETA ihre Wählerinnen und Wähler vergraulen, dann ist es in diesem Bundestag damit eben irgendwann vorbei. Ich finde das unverantwortlich.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie lassen doch mit solch einer Politik zu, dass sich immer mehr Menschen abwenden, dass sie enttäuscht sind. Von einem Teil der Enttäuschten wissen wir inzwischen, wen sie wählen.
(Beifall bei der LINKEN - Christine Lambrecht (SPD): So wird das nichts mit dem Kampf gegen die AfD!)
Wir sind jedenfalls überzeugt: Dieses Land braucht nicht noch mehr Lohndumping, Verunsicherung und Zukunftsangst. Wir brauchen endlich eine Wiederherstellung des Sozialstaates. Wir brauchen unbefristete, gut bezahlte, reguläre Arbeitsplätze, und wir brauchen Gesetze, die die Beschäftigten vor der rücksichtslosen Renditejagd bestimmter - vor allem großer - Unternehmen, die das überhaupt nicht nötig hätten, schützen. Dafür steht die Linke. Deshalb lehnen wir den vorliegenden Gesetzentwurf ab.
(Beifall bei der LINKEN)
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- 22.06.2016